Menschenrechte in BRD eingeschränkt
Menschenrechte: Deutschland schränkt laut Bericht Versammlungsfreiheit ein
n einer digitalen Weltkarte rechnet Amnesty International die Bundesrepublik erstmals zu den Ländern, die das Recht auf Protest erschweren. Kritisiert wird unter anderem die Präventivhaft für Klimaaktivisten in Bayern.
Deutschland schränkt laut Bericht Versammlungsfreiheit ein
Amnesty International beobachtet weltweit eine Zunahme staatlicher Unterdrückung von Protest. Behörden wendeten zunehmend unrechtmäßig Gewalt an und erließen repressive Gesetze, um Proteste niederzuschlagen, erklärte die Menschenrechtsorganisation. Auf ihrer weltweiten Karte "Protest Map" werde erstmals auch Deutschland aufgeführt als ein Land, in dem die Versammlungsfreiheit eingeschränkt werde.
In mindestens 86 der untersuchten 156 Länder hätten staatliche Stellen im vergangenen Jahr unrechtmäßige Gewalt gegen friedlich Demonstrierende eingesetzt, erklärte Amnesty. In 37 Ländern hätten Sicherheitskräfte sogar tödliche Waffen verwendet. Die Recherchen hätten außerdem gezeigt, dass Protestierende in 79 der untersuchten Länder willkürlich inhaftiert worden seien. Teils seien Demonstrierende schweren Repressionen ausgesetzt, würden gefoltert, misshandelt, verschwänden einfach oder würden getötet.
Deutschland unter anderem wegen Präventivhaft gelistet
Deutschland sei erstmals als Land gelistet, in dem das Recht auf Versammlungsfreiheit zunehmend eingeschränkt werde, hieß es. Angeführt werden Beispiele für Präventivhaft, Schmerzgriffe, repressive Gesetzgebung und Versammlungsverbote. Vor allem Klimaaktivistinnen und -aktivisten seien zurzeit zunehmenden Repressionen ausgesetzt.
So habe die bayerische Polizei seit Oktober 2022 Dutzende Aktivisten für bis zu 30 Tage in Präventivhaft genommen, zuletzt im Zusammenhang mit der Autoausstellung IAA in München. "Obwohl die Präventivhaft ursprünglich zur Verhinderung schwerer Gewaltdelikte gedacht war, wurde sie in den vergangenen Jahren vor allem zu Abschreckungszwecken gegen Klimaaktivistinnen und -aktivisten eingesetzt", sagte Amnesty-Expertin Paula Zimmermann.
In den vergangenen Jahren seien auch Fälle von übermäßiger Polizeigewalt gemeldet worden, insbesondere bei Straßenblockaden, führte Amnesty weiter an. "Wir appellieren an die Bundes- und Landesregierungen, die Versammlungsfreiheit in Deutschland umfassend zu schützen", sagte Zimmermann.
Quelle: SZ.de v.19.09.2023/Eine Klimaschützerin der © Hannes P. Albert/dpa
Aus: Ausgabe vom 15.09.2023, Seite 12 / Thema
DER STAAT UND SEINE BÜRGER
Streit ums Kind
Deutschland rettet seine Zukunft. Die Ampel-Koalition, die Kinderarmut und der Staatshaushalt
Von Theo Wentzke
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Kinder sind unsere Zukunft. Diesem Motto der derzeit so kontroversen Familienministerin Lisa Paus widerspricht kein Politiker von ganz links bis ganz rechts. Warum auch? Politiker sind darin geübt, sich per erster Person Plural innigst mit den Bürgern zusammenzuschließen, über die sie regieren. Sie finden nichts dabei, sich auch über die größten ökonomischen und politischen Gegensätze unter ihren Bürgern hinwegzusetzen und sie alle als das große Wir-Volk rhetorisch zu vereinnahmen, als das sie sie praktisch beanspruchen. Warum sollten sie also vor unmündigen Kindern haltmachen? Vor denen, die sie gerne als die kleinen Träger des großen Potentials »unseres« großartigen Kollektivs veranschlagen? Gerade an den Kindern wird das nationale Wir beschworen – als quasifamiliäre Verantwortungsgemeinschaft, die sich über alle sonstigen Trennungen hinweg um ihren kollektiven Fortbestand als Volk kümmert, so als wären dessen Mitglieder miteinander wirklich über so etwas wie Blutsbande verbunden. Was gibt’s also bei der Einigkeit zu streiten – sogar unter Regierungspartnern?
Ein Problem der Teilhabe
Am Anfang steht der Umstand, dass die Zukunft sehr vieler Kinder sehr schlecht aussieht, weil sie durch die gegenwärtige Armut ihrer Eltern schon weitgehend feststeht: »Wir haben seit Jahren eine strukturell verfestigte Kinderarmut in Deutschland. Dahinter stehen Millionen von Kindern und Jugendlichen, deren Alltag es ist, nicht mitmachen und nicht dabeisein zu können. Das ist nicht nur ungerecht, sondern hat auch gravierende Folgen: auf den Bildungserfolg, auf die Gesundheit, auf die gesellschaftliche Teilhabe. Deshalb müssen wir mehr tun für die Bekämpfung von Kinderarmut« (Paus, bmfsfj.de). »Nicht mitmachen und nicht dabeisein können« – das ist vielleicht höflich.
Die Familienministerin weiß doch genausogut wie ihr marktwirtschaftlich erfahrenes Publikum, was den Alltag armer Kinder wie Erwachsener ausmacht: Das ist zunächst schlicht der Geldmangel. Von wegen also, die armen Kinder wären nicht alltäglich »dabei«. Sie machen doch hautnah Bekanntschaft mit dem Kernprinzip marktwirtschaftlichen Reichtums: Wem das Geld fehlt, der wird von dem ausgeschlossen, was er braucht und will; er wird auch dort – Stichwort: Bildung – faktisch benachteiligt, wo Geld von Staats wegen ausnahmsweise keine Rolle spielen soll. Mit »struktureller« Regelmäßigkeit kommt das bekannte Ergebnis heraus, das niemanden wirklich überrascht und zugleich jeden Anhänger der Chancengleichheit – also jeden – bekümmert. Was offensichtlich zur Realität der Marktwirtschaft gehört, gehört sich nach ihrem Selbstbild eben nicht: Kinder erben von ihren Eltern nicht nur manche natürliche Eigenschaft, sondern auch deren sozialen Status. Deren armutsbedingten Ausschluss vom gesellschaftlichen Reichtum müssen die Kinder täglich »mitmachen«; das macht ihre Armut überhaupt aus.
Erst recht bei den Eltern kann von mangelnder Teilhabe keine Rede sein: »Im Bürgergeld sind aktuell weniger als zwei Millionen Kinder. Es sind jedoch nicht nur Kinder im Bürgergeld von Armut bedroht. Fast vier Millionen Kinder leben in Familien, in denen die Eltern zwar hart arbeiten und weitgehend aus eigener Kraft für ihre Kinder aufkommen können, aber trotzdem staatliche Unterstützung brauchen, um ihren Kindern gute Chancen bieten zu können« (Interview mit Paus in der FAZ, 17.8.2023).
Hinter dem Geldmangel steht also offenbar eine untaugliche, »strukturell verfestigte« Geldquelle. Oder etwas deutlicher: Dahinter steht eine Einkommensart, die gar nicht erst daran Maß nimmt, ob sie Zugang zu dem gewährt, was den Kindern aus der verfremdenden Sicht besorgter Minister fehlt. Ihr Maß hat sie allein darin, den Zugriff eines kapitalistischen Unternehmers auf rentable Arbeit zu gewähren; also wenig Geld für den Arbeiter abzuwerfen und viel Leistung für seinen Anwender zu bringen. Bei den Lohnarbeitern hat das fürs Kinderkriegen und -erziehen dieselbe bekannte Wirkung wie für alle anderen Lebensentscheidungen dieser Klasse: Viel ist da nicht drin, für viele nicht einmal ein Existenzminimum.
Damit wäre man bei der Armut, die Ministerin Paus bekämpfen will: »Deshalb müssen wir mehr tun für die Bekämpfung von Kinderarmut. Die Kindergrundsicherung wird kommen! Sie ist für mich eine der wichtigsten Zukunftsinvestitionen« (bmfsfj.de). »Wir sagen ja immer: Unsere Kinder sind unsere Zukunft. Aber was ist das für eine Gesellschaft, die ein Fünftel der jetzt schon geborenen Kinder im sozialen Abseits stehen lässt?« (Paus in der FAZ)
Und die Gründe?
Verstanden. Die ganze Welt der Arbeit, aus der die Armut stammt, geht die Familienministerin nichts an; die gehört nicht zu ihrem Kompetenzbereich. Ihre Kompetenz besteht statt dessen darin, die schlechten Konsequenzen der Arbeitswelt als ein furchtbares Problem zu definieren, das staatliche Kompensation erfordert, ohne den Gründen des Problems irgendwie nahezutreten. »Strukturell verfestigt«: Der Soziologismus steht bloß dafür, wie fest die Ministerin mit der Armut der Eltern rechnet, die sich – irgendwie – hartnäckig eingestellt hat. An die Stelle von ökonomischen Gründen für die Armut der Kinder setzt sie die denkbar allgemeinste moralische Schuldzuweisung, die jeden Unterschied und jede Klarheit in der Frage des Grunds zum Verschwinden bringt – jedenfalls bringen würde, wenn das überhaupt die Frage wäre. Sie kündigt eine »Bekämpfung« von Kinderarmut an, die keinen ökonomischen Gegner, nur eine moralische Bewährungsprobe kennt – gewissermaßen einen Auftrag der Gesellschaft gegen ihre eigene Gleichgültigkeit. So geht Armutsbekämpfung, wenn sie von Politikern betrieben wird, die die Armen wie alle anderen regieren, also selbst definieren, welches »Problem« die Armut ist und für wen: In diesem Fall ist sie ein Problem für die Leistung, die die Eltern von Staats wegen für ihre Kinder zu erbringen haben, dies aber aus eigener Kraft nicht können. Dass sie das nicht können, definiert Paus als ein »Versagen des Staates«. Damit sie das nun besser können, verlegt sie sich auf ein funktionales Äquivalent für die Bekämpfung ihrer Armut: Als private »Funktionäre« des staatlichen Interesses an ihren Kindern sollen Eltern mehr Geld bekommen. Dann, so wiederum das Anrecht und der Auftrag der Eltern, können ihre Kinder in den Genuss von mehr »Teilhabe« kommen.
Woran eigentlich? Die Ministerin redet von »Bildung«, »Gesundheit« und schon wieder von »Teilhabe« – so, als wären die selbst schon der Wohlstand, auf den es für die Leute ankommt, und nicht bloß die Bedingungen, um ihn überhaupt anzustreben. Genau darum geht es aber: um die Befähigung von Kindern, Konkurrenzsubjekte auf dem Arbeitsmarkt zu werden, damit über deren Abschneiden dort nicht schon vor ihrem Eintritt ins Arbeitsleben entschieden wird. Es geht also um Teilhabe an derselben Veranstaltung, an der auch ihre armen Eltern voll und ganz teilhaben. Natürlich sind die Eltern auch dann auf dem Arbeitsmarkt dabei, wenn kein Unternehmen sie gebrauchen will, und sie sind es erst recht, wenn ihre Arbeit – nach Auskunft der Ministerin: millionenfach – so nachgefragt und benutzt wird, dass das Ergebnis die Reproduktion des armseligen Ausgangspunkts ist.
Wird nun der Arbeitsmarkt für die Kinder darüber tauglicher, dass sie in ihn leichter hineinkommen? Solche Fragen würden die Familienministerin bloß wieder aus ihrem Kompetenzbereich herauskatapultieren: Es geht ja – wie gesagt – nicht darum, die Armut von Lohnarbeitern zu bekämpfen, wie es sie in der BRD gibt, sondern darum, Deutschlands Kinder besser vor der lohnarbeitsbedingten Armut ihrer Eltern zu schützen, bis sie selbst am Arbeitsmarkt teilhaben können. Und zwar – genau wie bei ihren Eltern – zu den Bedingungen, zu denen »die Wirtschaft« sie an ihrer Bereicherung »teilhaben«, d. h. dafür arbeiten lässt: »Die Kindergrundsicherung ist künftig die zentrale Leistung für alle Kinder. Sie vereinfacht das System der Familienförderung (…). Die Kindergrundsicherung soll aus einem für alle Kinder gleich hohen Garantiebetrag bestehen, der das heutige Kindergeld ablöst (…). Hinzu kommt ein einkommensabhängiger Zusatzbetrag. Zusammen decken Kindergarantiebetrag und Kinderzusatzbetrag das soziokulturelle Existenzminimum für Kinder ab. Mit dem Zusatzbetrag der Kindergrundsicherung werden Familien mit weniger Einkommen stärker unterstützt. Denn es geht darum, Armutsrisiken zu verringern und allen Kindern die gleichen Start- und Entwicklungschancen zu eröffnen« (bmfsfj.de). Ein Ziel, dem kein Politiker, weder aus der Regierung noch aus der Opposition, widersprechen mag.
Lindner streicht
Unsere Zukunft lebt allein vom Wachstum »unserer Wirtschaft«, bei der das Geld besser aufgehoben ist. Aber was heißt das schon? Welches Ministerium hat denn nicht unwidersprechliche Ziele für »unseren Wohlstand«, für die hoheitliche Geldmittel ebenso nötig sind? Zielkonflikte sind bekanntlich unvermeidlich, wenn ein finanziell seriöser Staatshaushalt daraus werden soll; bei aller Notwendigkeit der Aufgaben gilt es also, Ausgabendisziplin zu bewahren, was in aller Regel heißt: Abstriche machen. Darunter leidet das Notwendige, bisweilen entfällt es ganz; Unsachlichkeit im Wortsinne gehört eben zur haushälterischen Vernunft im Kapitalismus.
Deren Durchsetzung gehört in erster Linie zum Kompetenzbereich des Finanzministers. Und der aktuell regierende hat seiner Koalitionskollegin schon vor einigen Monaten mitgeteilt, ihr Projekt sei zwar »wünschenswert, aber nicht realisierbar« (Christian Lindner im Bild-Interview, 2.4.2023). Einige Monate später kündigt er an, nur zwei statt der geforderten zwölf Milliarden zu gewähren – »als Platzhalter« (tagesschau.de, 23.8.2023). Und so, wie er für diese Zurückweisung argumentiert, wird deutlich: Die erste und entscheidende Aufgabe eines bundesdeutschen Finanzministers besteht darin, mit spitzem Stift dicke Lügen zu erzählen. Er findet nichts dabei, Schulden in einem Ausmaß zu tragen und Jahr für Jahr neu zu beschließen, das kein Privathaushalt je hinkriegen könnte, und trotzdem so zu reden, als ob der Kredit noch nicht erfunden worden wäre: »Es kann nur das an Staatsgeld verteilt werden, was Menschen und Betriebe zuvor erarbeitet haben. Die logische Voraussetzung einer neuen Leistung wie etwa der Kindergrundsicherung ist, dass wir überhaupt eine prosperierende Wirtschaft haben« (Lindner in der FAZ, 17.8.2023). Zur einen – traditionsreichen – Lüge gesellt sich also gleich die zweite. Als ob der Mann anlässlich des »Sondervermögens Bundeswehr« nicht mit der Finanzkraft angeben würde, die Deutschland seiner »prosperierenden« kapitalistischen Akkumulationsmaschinerie verdankt.
Die finanzpolitische Propaganda hat dennoch ihren guten Sinn; sie ist in gewisser Weise sogar aufklärerisch: So unbedingt, wie Lindner darauf herumreitet, dass ein erfolgreiches nationales Wachstum und ein solides nationales Geld die absolut unerlässliche Bedingung für alles sind, was der Staat sonst noch für seine Bürger tut, wird klar, was der eigentliche Zweck aller staatlichen Auf- und Ausgaben ist. Es geht überhaupt um das Wachstum der Wirtschaft, um Geldvermehrung dort und um den schönen Effekt, den das auf das nationale Geld hat. An dem Kriterium hat sich die Kinderförderung wie alle anderen Aufgaben zu messen; und das sortiert diese Aufgaben wiederum sehr gründlich: Es scheidet Geld, das der Staat bloß ausgibt, also angeblich erst verdienen muss, von dem Geld, mit dem der Staat »Impulse« setzt, Wachstum ankurbelt, das also nicht erst verdient werden muss, weil es sich als »investive Staatsausgabe« in der Zukunft selbst verdient.
»Es ist offensichtlich, dass wir Impulse für mehr Wachstum brauchen. Ein wichtiger Baustein dafür ist das geplante Wachstumschancengesetz. Es sieht neue Investitionsprämien, Steuervereinfachungen, bessere Abschreibungsmöglichkeiten und mehr Forschungsförderung vor« (ebd.). An dieser Stelle versucht es die Familienministerin mit einer sicher gutgemeinten Retourkutsche, mit der sie die von ihr geplanten, bloß »konsumptiven Ausgaben« mit dem Ehrentitel »Investition« schönreden will: »Abgesehen davon ist es auch ökonomisch unvernünftig, diese Kinder, die einen wichtigen Beitrag zum gesellschaftlichen Wohlstand leisten können, nicht zu unterstützen.« »Investitionen in unsere Kinder sind Investitionen in die Zukunft Deutschlands. Wir haben eine der ältesten Bevölkerungen der Welt – da wäre es kurzsichtig, das nicht zu beherzigen. Und ganz grundsätzlich gesagt: Immer wieder heißt es, wir müssten erst mal erwirtschaften, was wir verteilen können. Dabei ist es doch umgekehrt: Wir brauchen gute Rahmenbedingungen für Familien, auch, damit Eltern überhaupt erwerbstätig sein können« (Paus in der FAZ).
Es hilft zwar nichts gegen die Objektivität, die Lindner bei all seinen propagierten Unwahrheiten trotzdem auf seiner Seite hat: Geld für Soziales ist und bleibt ein zwar notwendiger, aber doch eben Abzug von dem Reichtum, auf den es in der Nation ankommt. Doch die Perspektive auf die Kinderförderung, die Paus mit ihrem Konter einnimmt, ist ganz im Sinne des Finanzministers: Wenn es schon um die Förderung der Zukunft Deutschlands geht und wenn der Maßstab dafür die Förderung der Beiträge ist, die Kinder und Eltern auf dem Arbeitsmarkt erbringen, dann sieht sich Lindner herzlich dazu eingeladen, über seine haushälterischen Belehrungen hinauszugehen und zu zeigen, dass er auch Familienpolitik kann – erst recht, wenn man ihn mit dem Vorwurf provoziert, ihm wären die armen Kinder offenbar egal: »Mir geht es auch darum, dass Kinder und Jugendliche gute Perspektiven haben. Nicht die Herkunft soll über den Lebensweg entscheiden« (Lindner in der FAZ).
»Hilft da wirklich mehr Geld?«
»›Hilft da wirklich mehr Geld auf das Konto der Eltern, oder sollten wir mehr tun für Sprachförderung und Arbeitsmarktzugang der Erwachsenen und für die Schulen der Kinder? Der finanzielle Anreiz zur Arbeitsaufnahme darf auch nicht verloren gehen‹, mahnte Lindner. Er betonte: ›Bevor wir ein Preisschild an die Kindergrundsicherung machen, sollten wir fragen, was wir eigentlich brauchen, um die Lebenschancen von Kindern und Jugendlichen zu verbessern‹« (Welt, 21.7.2023). »Wenn wir über Kinderarmut reden, dann müssen wir noch einen anderen wichtigen Punkt beachten: Es gibt einen Zusammenhang zwischen Zuwanderung und Kinderarmut. Sprachkenntnisse und Bildung, insgesamt die Arbeitsmarktintegration der Eltern, sind mitentscheidend für die Situation von Kindern. Unser Ziel muss es sein, dass Eltern ihr eigenes Einkommen erzielen. Ihnen einfach nur mehr Sozialtransfers zu überweisen verbessert nicht zwingend die Lebenschancen der Kinder« (Lindner in der FAZ).
Lindner beharrt also auf einer besonders konsequenten Fassung des Standpunkts, die Armut der Kinder bestünde und begründete sich in mangelnder »Teilhabe«, und die Funktion der Eltern bestünde darin, statt ihrer Armut ihre Integration in »die Gesellschaft« und deren Arbeitsmarkt weiterzugeben. Es ist zwar eine zynische – und gewollt durchsichtige – Verharmlosung, wenn Lindner dabei den Zwang zum Arbeiten, den er an die Stelle von Geldtransfers an die Eltern setzt, einen »finanziellen Anreiz« nennt. Aber in der Hauptsache hat er sogar recht: Dieser Zwang ist tatsächlich das politische Fundament der ganzen Veranstaltung, an der laut beiden Seiten des Koalitionsstreits Kinder und Eltern zuwenig teilhaben – oder wie kämen die von Paus angeführten Eltern millionenfach auf die Idee, »hart zu arbeiten« und dennoch generationenübergreifend arm zu bleiben, wenn nicht der Zwang der Alternativlosigkeit dahinterstünde? Lindners wahrer Zynismus liegt also nicht etwa in übler Nachrede gegenüber den armen, hauptsächlich mit Migrationshintergrund versehenen Eltern, wie sie ihm nach seinem soeben zitierten FAZ-Interview von vielen Seiten angekreidet wird.
Er liegt dort, wo ihn keine Seite im Streit entdecken will: in seinem mit aller Selbstverständlichkeit vorgetragenen, absolut affirmativen Verhältnis zur Zwangsveranstaltung namens freie Lohnarbeit. Auf der bestehen alle am Streit Beteiligten – nicht als die Quelle der Armut, die sich millionenfach so störend auch in der Lage der Kinder niederschlägt, sondern als Quelle des Wohlstands, der den Kindern fehlt. Insofern erweist sich Lindner als liberaler Fundamentalist der marktwirtschaftlichen Konkurrenz, auf die keine Partei etwas kommen lassen will.
Bloß nicht bei den Falschen
»Unserer Zukunft« dient eine Familienpolitik, die vor allem den Erfolg unterstützt, also die Erfolgreichen. Im Sinne der Solidität deutscher Haushaltsrechnungen fordert Finanzminister Lindner von der Kollegin im Familienministerium die Einsparung von 500 Millionen Euro aus ihrem Etat. Paus entscheidet sich »von den schlechten Varianten für die am wenigsten schlechte« (Interview im Spiegel 10.7.2023) und beschränkt den Kreis der Zugangsberechtigten für das Elterngeld von derzeit 300.000 Euro zu versteuerndem Jahreseinkommen auf künftig 150.000 Euro. Sie begründet das damit, dass sie »auf keinen Fall die Höhe des Elterngeldes kürzen wollte, um sozialpolitischen Schaden zu vermeiden«, und verweist darauf, dass Paare mit 150.000 Euro Einkommen »selbstverständlich wohlhabend« (Zeit online, 7.7.2023) sind und nur ungefähr fünf Prozent der Bezieher von Elterngeld ausmachen, so dass die Kürzung der Mittel den sozialen Zweck des Elterngeldes nicht konterkariert.
Das ist aber schon wieder nicht recht. Kaum verkündet, schallt ihr vom liberalen Koalitionspartner wie von der christlichen Opposition empörte Kritik entgegen. Die richtet sich genau gegen die soziale Stoßrichtung ihres Kürzungsvorschlags und liefert eine Klarstellung zur Aufgabe ihres Ministeriums: »›Lisa Paus ist nicht Sozialministerin, sondern Familienministerin‹, schimpft der FDP-Politiker im gemeinsamen Morgenmagazin von ARD und ZDF. Und schließlich gehe es hier um Gleichstellung und ein familienpolitisches Ziel – nämlich, dass ›junge Paare aus der Mitte der Gesellschaft es sich leisten können, Kinder zu bekommen‹. ›Elterngeld ist keine Sozialleistung, sondern bewusst eine Lohnersatzleistung, die zwar nicht für alle – es gibt ja eine Einkommensgrenze –, aber auch für die Mitte der Gesellschaft da ist – z. B. die Ingenieurin und den Lehrer‹« (tagesschau.de, 5.7.2023). »Warum wollen Sie besonders die Leistungsträger abstrafen?« (CSU-Abgeordnete Bär im Bundestag, 5.7.2023)
Die Kürzung mag keinen sozialen Schaden anrichten, wohl aber einen am Volkskörper – und um den geht es überhaupt in der Familienpolitik. Dem tut es nicht gut, wenn ausgerechnet diejenigen, die am Arbeitsmarkt so erfolgreich funktionieren, also auf höherem Niveau arbeiten und verdienen, nicht extra gefördert werden. Deren Kinder tun »unserer Zukunft« besonders gut; die zeichnen sich als förderungswürdige Volksmitglieder gerade dadurch aus, dass sie keine Hilfen zur »Teilhabe« brauchen. Diese Eltern brauchen wirklich nur Geld, um genauso erfolgreich wie in der Berufshierarchie als Produzenten von Kindern zu funktionieren, die so wenig Extrahilfen brauchen, weil sie schon in die »Mitte der Gesellschaft« hineingeboren werden, man sie also nicht erst mühsam mit – natürlich gut gemeintem, »anreizendem« – Zwang dort hinbringen muss.
Für die Kinder der Erfolgreichen Geld auszugeben heißt also, wirklich einmal Geld zu investieren, wo es sich für den Volkskörper lohnt – gerade diesen erfolgstüchtigen Menschenschlag darf man nicht mit Kürzungsvorschlägen von seinen erwünschten Reproduktionsabsichten abschrecken. Die Prämie namens Elterngeld muss um so höher ausfallen, je weniger es um die Behebung wirklichen Geldmangels und je mehr es um die Einflussnahme auf die freie Lebensplanung von Besserverdienenden geht. 65 Prozent des letzten Nettogehalts, maximal 1.800 Euro, sowie die Verpflichtung der Arbeitgeber auf ein Rückkehrrecht zu den vorherigen Bedingungen müssen schon drin sein.
Woanders sparen
Unsere Zukunft braucht ganz moderne Eltern, die möglichst beide den Machern unseres Wachstums zur Verfügung stehen. Auch und gerade für die SPD ist die Integration in den Arbeitsmarkt das höchste Gut, die wichtigste Sozialleistung. Auch ihr fällt an der Stelle ein Versagen des Staates ein, in dem Fall ein steuerpolitisches. SPD-Chef Lars Klingbeil knüpft an die Kritik seines Kollegen aus der FDP mit einer Belehrung der Familienministerin in Sachen politischer Regelkunde an, um auf sein familienpolitisches Vorhaben zu kommen: »SPD-Chef Lars Klingbeil hat vorgeschlagen, das Ehegattensplitting zu streichen, statt das Elterngeld zu kappen. ›Verteilungsfragen klärt man über die Steuerpolitik, nicht über das Elterngeld (…). Wir haben im Koalitionsvertrag schon festgelegt, dass wir Steuern gerechter verteilen wollen‹, sagt Klingbeil. Das jetzige Steuerrecht führe dazu, dass vor allem Frauen eher zu Hause blieben anstatt zu arbeiten, weil Frauen im Vergleich zu ihrem Partner häufiger weniger verdienen. Die SPD wolle das ›antiquierte System‹ für Ehen, die in Zukunft geschlossen werden, abschaffen. Auch, um Frauen stärkere Chancen auf dem Arbeitsmarkt zu ermöglichen (…). ›Das Elterngeld ist keine Sozialleistung‹, stellt Klingbeil fest. Es sei aus Aspekten der Gleichstellung eingeführt worden. Um Frauen die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu erleichtern und dass Frauen stärker dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stünden. Wenn man das Elterngeld nun kappe, egal an welcher Grenze, führe das am Ende dazu, ›dass mehr Frauen zu Hause bleiben, dass weniger Frauen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Und einen solchen Weg finde ich nicht richtig‹« (ZDF-Interview, 10.7.2023). »Und der Staat würde Geld sparen« (Spiegel online, 10.7.2023). »Den Staat kostet die Einsparung für Verheiratete etwa 20 Milliarden Euro jährlich« (sueddeutsche.de, 10.7.2023).
Es fügt sich alles so schön zusammen: Frauen bekommen mehr Chancen auf dem Arbeitsmarkt, wenn man den gerechten Zwang – Lindner würde sagen: »finanziellen Anreiz« – stiftet, der Doppelbelastung von Familie und Beruf eine Chance zu geben. Das ist auch und gerade deswegen so schön, weil die Frauen dann – weniger »dem Arbeitsmarkt« als vielmehr – den Unternehmen zur Verfügung stehen, also deren Freiheit vergrößert wird, Arbeitskräfte zu finden, die zu ihren Gewinnrechnungen passen. Das alles dient der Gleichstellung und würde dem Finanzminister noch dazu bei seinen Drangsalen helfen.
»Unsere Zukunft« braucht vor allem einen kollektiven starken Mann an der Staatsspitze. Dass er sie überdauert, ist offenbar der größte Schaden am Volkskörper. Das ist jedenfalls für verärgerte Mahnungen von allen drei Koalitionspartnern und erst recht von einer aufgebrachten Öffentlichkeit gut: Bloß nicht schon wieder und immer weiter vor den Kindern streiten! Das ist schon wieder aufklärerisch: In der Demokratie besteht das erste Recht aller Bürger, alt und jung, in einer handelseinigen Regierung, die weiß, was sie will, und sich bei dessen Durchsetzung nicht selbst im Wege steht. Zumindest das ist der Koalition – zwar für den Geschmack der Öffentlichkeit zu spät und zu unglaubwürdig, aber – dann doch »vor Meseberg« gelungen.
Quelle: junge Welt 15.09.2023/ IMAGO/Funke Foto Services
Schöne Demokratie. In der Bundesrepublik ist jedes fünfte Kind von Armut betroffen. Mit der kapitalistischen Ökonomie soll das aber bitteschön nichts zu tun haben
us: Ausgabe vom 12.09.2023, Seite 1 / Inland
WOHNUNGSKRISE
Familien ohne Bleibe
Statistik der Wohnungslosenhilfe erfasst mehr Hilfesuchende mit einem oder mehreren Kindern
Von David Maiwald
In der Bundesrepublik sind auch Familien zunehmend von Wohnungslosigkeit bedroht – mit steigender Tendenz, so die Befürchtung. Einen »sehr beunruhigenden Höchstwert« zeige sich der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe beim Anteil von bei ihr Hilfe suchenden Familien, teilte die BAG zum Tag der wohnungslosen Menschen am Montag mit. Laut dem BAG-Jahresbericht »zur Lebenslage wohnungsloser und von Wohnungslosigkeit bedrohter Menschen« lebten demnach im Berichtsjahr 2021 rund elf Prozent der Hilfesuchenden in Haushalten mit einem oder mehreren Kindern, darunter Alleinerziehende und Paare mit Kindern. Die BAG nennt die Zahlen in ihrem Statistikbericht »alarmierend«.
Zwar seien Haushalte mit Kindern im Vergleich zu Haushalten ohne Kinder seltener akut von Wohnungslosigkeit betroffen, heißt es darin. Mit rund 37 Prozent habe dennoch mehr als jede dritte Familie, die im Jahr 2021 Hilfsdienste und Hilfseinrichtungen freier Träger aufsuchte, ohne eigene Wohnung gelebt. Der Wert sei demnach erstmals seit sechs Jahren wieder unter die Marke von 40 Prozent gesunken. Doch könnten erst die Daten der kommenden Jahre genauen Aufschluss darüber geben, »ob es sich hier um einen anhaltenden Rückgang von Familienwohnungslosigkeit handeln könnte oder ob diese Entwicklung nicht eher als Echo der Coronamaßnahmen verhallt«, heißt es im Bericht.
Erst Anfang August hatte das Statistische Bundesamt vermeldet, dass sich die Anzahl der in Unterkünften der Kommunen untergebrachten Menschen 2022 mit insgesamt 372.060 Personen fast verdoppelt hat. Die gesamte Zahl an Wohnungslosen sei »deutlich höher«, hatte BAG-Geschäftsführerin Werena Rosenke dazu gegenüber jW erklärt. So ist es auch hier: Seien zu Beginn der Coronapandemie vielerorts Zwangsräumungen zumindest in Haushalten mit Kindern zeitweilig ausgesetzt worden, seien viele dieser Räumungen »bereits 2021 wieder nachgeholt« worden, erklärte die BAG in ihrem Jahresbericht. In den kommenden Jahren könne daher »ein weiterer Anstieg akut wohnungsloser Familien« feststellbar werden.
Quelle: junge Welt v.12.09.2023/ Paul Zinken/dpa
Mehr als jede dritte Familie, die Angebote der Wohnungslosenhilfe aufsuchte, lebte 2021 ohne eigene Wohung
Aus: Ausgabe vom 12.09.2023, Seite 5 / Inland
SOZIALPOLITIK
Habenichtse im Alter
Zahlen aus Bundesarbeitsministerium: Millionen Vollzeitbeschäftigte im Ruhestand in Armut
Von Ralf Wurzbacher
Hiobsbotschaften für aktuelle sowie kommende Rentnerinnen und Rentner setzt es hierzulande fast schon gewohnheitsmäßig. Am Montag folgte die nächste: Fast die Hälfte aller heute sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten wird sich später mit monatlichen Altersbezügen von unter 1.500 Euro begnügen müssen. Wie üblich trifft es die Menschen im Osten der Republik besonders hart. Hier droht eine Mehrheit mit 1.300 Euro abgespeist zu werden. Geliefert hat die Zahlen das Bundesarbeitsministerium (BMAS) auf Anfrage der Bundestagsfraktion Die Linke. Gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND) warnte deren Vorsitzender Dietmar Bartsch vor »sozialem Sprengsatz«, der bei der Ampelkoalition »alle Alarmglocken« schrillen lassen müsse. »Es reicht nicht mehr aus, an Stellschrauben zu drehen. Wir brauchen substantielle Verbesserungen«, befand er.
Um später staatliche Zuwendungen von 1.500 Euro zu erhalten, muss man gemäß BMAS-Erhebung 45 Jahre 40 Stunden wöchentlich bei einem Stundenlohn von 20,78 Euro gearbeitet haben, was einem Bruttomonatsverdienst von 3.602 Euro entspricht. Von den derzeit rund 22 Millionen Menschen in beruflicher Vollzeit erreichen etwa 9,3 Millionen gerade so diese Grenze beziehungsweise liegen darunter. Verdient man stündlich 18,01 Euro oder 3.122 Euro im Monat, stehen einem im Alter 1.300 Euro zu. Um auf eine Rente von 1.200 Euro zu kommen, ist nach den Berechnungen ein Stundensatz von 16,62 Euro erforderlich oder 2.882 Euro monatlich. 36 Prozent der Vollzeitbeschäftigten schaffen es nicht über diese Schwelle, womit sie im Rentenalter auch offiziell unterhalb der Armutsgrenze verharren. Die verlief im Vorjahr bei 1.250 Euro. Linderung verspricht auch die geplante Erhöhung des Mindestlohns nicht. Mit der kläglichen Aufstockung von zwölf auf 12,41 Euro zum 1. Januar 2024 bleibt das Instrument ein Garant für Altersarmut.
»Das ist zynisch und respektlos gegenüber Millionen Beschäftigten«, bemerkte Bartsch und forderte eine Anhebung auf 14 Euro. Da überdies immer mehr Menschen nicht auf 45 Arbeitsjahre kämen, werde das Verarmungsrisiko auf dem Altenteil »weiter ansteigen«. Die von seiner Partei, Gewerkschaften und Sozialverbänden geforderten 14 Euro ab dem kommenden Jahr wären ein »Zeichen des Respekts«, so der Linke-Politiker. »Perspektivisch muss der Mindestlohn zu einer auskömmlichen Rente führen.« Außerdem empfahl er, das Rentenniveau von 48 Prozent auf 53 Prozent des Durchschnittsweinkommens aufzuwerten, sowie eine »schnell wirksame« außerordentliche Anpassung von zehn Prozent oder mindestens 200 Euro im Monat. »Handelt die Bundesregierung nicht, läuft der Countdown mit der Gefahr, dass das Land sozial implodiert«, so Bartsch.
Nichts dergleichen kommt den Regierenden in den Sinn. Statt dessen setzt die Ampel auf die »Aktienrente« und darauf, das in Gestalt der Riester-Rente kapital gescheiterte private Alterssparen unter neuem Namen künftig noch mehr zu pushen. Ferner machte CDU-Chef Friedrich Merz dieser Tage mit dem Vorstoß von sich reden, das Renteneintrittsalter an die Lebenserwartung zu koppeln – noch so eine Rentenkürzung durch die Hintertür. Reiner Heyse von »Seniorenaufstand«, einem Koordinierungskreis gewerkschaftlicher Seniorenpolitiker im norddeutschen Raum, schweben andere Maßnahmen vor. Gegenüber jW plädierte er am Montag für Renten, die »mindestens 75 Prozent des im Arbeitsleben erzielten durchschnittlichen Nettoeinkommens betragen«. Außerdem brauche es eine »Erwerbstätigenversicherung, in der alle grundsätzlich gleichbehandelt werden und in der auch Beamte, Selbstständige und Politiker organisiert sind«, sowie »Mindestrenten, die stets über der Armutsgrenze liegen«.
Sorgen bereiten Heyse vor allem auch die zwölf Millionen Pflichtversicherten, die nicht in Vollzeit arbeiten. »Das sind Minijobber, Teilzeitbeschäftigte, Arbeitslose, von denen so gut wie niemand an die 1.200 Euro heranreicht.« Sein Fazit: »Im Angesicht der weiter rasant ansteigenden Altersarmut wird das Sozialstaatsgebot im Artikel 20 des Grundgesetzes zur zynischen, inhaltsleeren Papiernummer.«
Quelle: junge Welt v.12.09.2023/ Oliver Berg/dpa
Am Ende der Erwerbsarbeitszeit steht für immer: die Grundsicherung
Aus: Ausgabe vom 12.09.2023, Seite 3 / Schwerpunkt
POLITISCHER GEFANGER
Noch ein Geburtstag im Knast
USA: Indigener Aktivist Leonard Peltier wird 79. Kampf um Begnadigung geht auch nach fünf Jahrzehnten Haft weiter
Von Michael Koch
Hintergrund: Lese- und Vortragstour
Mehr Informationen zum Fall Leonard Peltiers und dessen Hintergründe finden sich in dem Buch »Ein Leben für die Freiheit – Leonard Peltier und der indianische Widerstand« der Autoren Michael Koch und Michael Schiffmann. Nach Erscheinen des Buches 2016 fanden bislang 87 Veranstaltungen statt. Mehrere tausend Besucher hatten somit die Möglichkeit, sich über den Fall des mittlerweile 79jährigen politischen Gefangenen, aber auch über andere Belange Indigener zu informieren. Dabei reichte das inhaltliche Spektrum der Veranstaltungen von Themen wie Völkermordgeschichte, aktuelle Lebensbedingungen in Reservationen, Repression und Widerstand über die sogenannten Missing and Murdered Indigenous Girls and Women und Frauen im indigenen Widerstand bis hin zum Komplex »Umwelt, Menschenrechte und soziale Kämpfe«.
So unterschiedlich wie die jeweiligen Themenschwerpunkte waren auch die Veranstaltungsorte: Autonome und soziokulturelle Zentren, Gemeindehäuser und Buchläden, Stadtteilbüros, Vereinsfeste, als Livestream auf Youtube oder in den Hüttendörfern des Danneröder-, Hambacher- und Fechenheimer Waldes sowie bei Antikohleaktionen in Lützerath und Keyenberg. Dabei sind die Veranstaltungen ein Mix aus freiem Vortrag, Lesung, Medieneinspielungen und eigenen Songs sowie Interaktion mit dem Publikum. Die 13. Lese- und Vortragsvortragstour beginnt an diesem Dienstag, dem 79. Geburtstag Peltiers, bei der Mahnwache in Frankfurt gegenüber dem US-Generalkonsulat, Gießener Str. 30, um 18 Uhr. Weitere Stationen sind bislang: Venedig am 16. September, Nürnberg am 4. November, außerdem in Planung sind derzeit Leipzig und Ludwigshafen. (mk)
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An diesem Dienstag, dem 12. September, wird der indigene politische Langzeitgefangene Leonard Peltier 79 Jahre alt. Für den seit vielen Jahren schwerkranken Aktivisten des American Indian Movement (AIM) bedeutet das unter anderem, dass dies der 48. Geburtstag nach seiner Festnahme am 6. Februar 1976 ist, den er in einem der berüchtigten US-Hochsicherheitshaftanstalten verbringt, isoliert von Freunden und Familie, eingesperrt in einer winzigen Zelle, weiterhin der Willkür von Justiz, FBI und einer gnadenlosen Politik ausgesetzt.
Über die Hintergründe von Peltiers Inhaftierung und Verurteilung berichtet die jW seit Dekaden immer wieder. Daher hier nur eine kurze Zusammenfassung. 1975, auf dem Höhepunkt tödlicher Angriffe einer durch die Oglala-Lakota-Stammesregierung gegründeten und unter anderem durch FBI und Polizei aufgerüsteten Todesschwadron (Guardians of the Oglala Nation, GOON) auf traditionelle sowie junge, sich politisch engagierende Lakota der Pine Ridge Reservation, riefen Oberhäupter und Stammesälteste der Oglala das AIM zur Hilfe. Am 26. Juni 1975 rasten die beiden FBI-Agenten Jack Coler und Ronald Williams mit einem ungekennzeichneten Wagen in ein AIM-Camp, das zum Schutz älterer Reservationsbewohner eingerichtet worden war. Nach Jahren des GOON-Terrors, dem mindestens 59 Lakota zum Opfer fielen, war dies der Funke, der die Situation endgültig eskalieren ließ.
An einen Überfall glaubend, leisteten Camp- und Reservationsbewohner zur Selbstverteidigung bewaffneten Widerstand. Bei dem Schusswechsel starben der junge AIM-Aktivist Joe Stuntz und die beiden FBI-Agenten. Als Hauptverdächtige präsentierte die US-Bundespolizei der Öffentlichkeit sofort die AIM-Aktivisten Dino Butler, Bob Robideau und Leonard Peltier. Butler und Robideau wurden noch 1975 festgenommen und später aufgrund des Verdachts, dass das FBI die Anklagebeweise manipuliert habe und der anzunehmenden Notwehrsituation freigesprochen. Als Peltier am 6. Februar 1976 in Kanada festgenommen und aufgrund von Falschaussagen einer angeblichen Zeugin an die USA ausgeliefert wurde, hatte er bei seinem Prozess keinerlei Chance auf ein faires und korrektes Verfahren. Das FBI setzte alles daran, seine Verurteilung zu bewirken.
1977 wurde Peltier zu zweimal lebenslänglich verurteilt. Und bis heute verhindern das FBI und andere Kräfte, dass dem Aktivisten endlich Gerechtigkeit widerfährt. Längst haben sich frühere, an den zahlreichen Verfahren beteiligte Richter und Staatsanwälte für Peltiers Begnadigung eingesetzt. Der lange Jahre aufsichtführende Staatsanwalt James Reynold hat sich bei ihm entschuldigt und US-Präsident Joseph Biden gebeten, Peltier freizulassen. Es gebe keinerlei Beweise für dessen Mitschuld am Tod der FBI-Agenten. Zum gleichen Schluss kam die UN-Arbeitsgruppe zu diskriminierenden Inhaftierungen in einem 17seitigen Bericht im August 2022. Und auch der Nationalkongress der Demokratischen Partei der USA hat einstimmig die Forderung nach Peltiers Freilassung in ihr Partei- und Wahlprogramm aufgenommen. Dennoch bewegt sich auf den alles entscheidenden Ebenen immer noch nichts, was auf eine baldige Begnadigung Peltiers hinweisen könnte.
An Peltiers 79. Geburtstag werden daher wieder zahlreiche Veranstaltungen und Aktionen mit der Forderung nach sofortiger Freiheit für den politischen Gefangenen stattfinden. In den USA sind in mehreren Städten Aktionen geplant, unter anderem von Amnesty International direkt vor dem Weißen Haus. Aber auch hier in Europa sind Mahnwachen und andere Aktionen geplant, so in Wien, Mailand, Venedig, Viterbo, in Berlin, Düsseldorf, Frankfurt am Main, Leipzig und Hamburg. Eine Übersicht finden Interessierte unter leonardpeltier.de. Und auch die 2021 begonnene Postkartenaktion wird weitergeführt. Mittlerweile sind 65.000 Postkarten im Umlauf, die US-Präsident Biden um Begnadigung Peltiers bitten. Postkarten und Unterschriftenlisten können über die Adresse lpsgrheinmain@aol.com angefordert werden. Koordiniert werden die Aktionen unter anderem durch den Verein Tokata-LPSG RheinMain e. V. und die European Alliance for the Self Determination of Indigenous Peoples.
Quelle: junge Welt v.12.09.2023/ privat
Inhaftiert seit 1977: Leonard Peltier ist einer der am längsten einsitzenden politischen Gefangenen (o. D.)
Ehemaliger paramilitärischer Macaco gestand Verbindungen zu Staatsanwälten und Richtern
Herausgegeben von Editora Bogotá | 17.2023.<> | Menschenrechte, Featured
17. Aug. CI.- Auf dem Treffen für die Wahrheit, das am Donnerstag vom Außenministerium organisiert wurde, erkannte der ehemalige paramilitärische Führer Carlos Mario Jiménez, alias "Macaco", die Verbindungen des Paramilitarismus zu hohen Staatsbeamten wie dem ehemaligen Staatsanwalt Nestor Humberto Martínez und dem Richter José Leonidas Bustos an.
Carlos Mario Jimenez, alias "Macaco", der die Vereinigten Selbstverteidigungskräfte Kolumbiens (AUC) in Magdalena Medio befehligte, kam aus dem Gefängnis von Itagui in das Bogotá Memory Center.
Macaco sagte, die Regierung von Alvaro Uribe habe sie nach ihrer Demobilisierung verraten und an die Vereinigten Staaten ausgeliefert, um ihn und andere paramilitärische Führer zum Schweigen zu bringen.
Der ehemalige Paramilitär sagte, er werde Details über ein Komplott gegen Präsident Gustavo Petro bekannt geben und fügte hinzu: "Die bedingungslose Unterstützung, die der ehemalige Richter José Leónidas Bustos und der ehemalige Staatsanwalt Néstor Humberto Martínez auf vielfältige Weise geleistet haben, mit der festen Absicht, das Bild des heutigen Präsidenten Gustavo Petro auf seinem Weg zu den zukünftigen politischen Bestrebungen, die er zu dieser Zeit entwickelte, systematisch zu verfolgen und durch die Staatsanwaltschaft zu zerstören."
Ecopetrol-Diebstahl und Infiltration im Staat
Carlos Mario Jiménez erklärte, dass die Paramilitärs mit Unterstützung der Politiker die Finanzen des Staatsunternehmens Ecopetrol ausgeblutet hätten.
Er sagte auch, dass er mehr Informationen über die Verbindungen zwischen dem Paramilitarismus und dem Staat habe: "Wir haben einige Richter der Obersten Gerichte infiltriert und korrumpiert für verschiedene Themen, wie die Präsidentschaftswahlen und Wiederwahlen, die Wahl des Generalstaatsanwalts der Nation, Senatoren, Vertreter der Kammer, Gouverneure, Bürgermeister. Auch andere schwerwiegende Korruptionsvorfälle."
Macaco entschuldigt sich bei den Opfern
Carlos Mario Jiménez versprach, Informationen über Vermisste und Massengräber in den Grenzgebieten zu Venezuela und Ecuador zu liefern.
Darüber hinaus entschuldigte er sich bei allen Opfern und beim Außenminister selbst, den die Paramilitärs irgendwann zum militärischen Ziel erklärten.
Er gab auch zu, dass sie planten, Senator Iván Cepeda und den derzeitigen Präsidenten Gustavo Petro zu ermorden. Jimenez räumte ein, dass es sich um "gescheiterte" und falsche Handlungen handelte.
Schließlich bat Macaco die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP), mehr paramilitärische Kommandeure anzuhören, damit seiner Meinung nach die ganze Wahrheit bekannt wird.
Wahrheit und Nichtwiederholung: Außenministerin Leyva
Außenminister Álvaro Leyva betonte, dass seine Behörde der "totalen Wahrheit" verpflichtet sei und versicherte: "Der kolumbianische Staat hat die Pflicht, mit angemessenen Mitteln in seinem Rahmen Wahrheit, Gerechtigkeit, Wiedergutmachung und Maßnahmen der Nichtwiederholung in Bezug auf schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts und schwere Menschenrechtsverletzungen zu gewährleisten."
In Bezug auf die Äußerungen von Macaco forderte der Außenminister, dass sie gegenübergestellt und überprüft werden, wofür er anerkannte, dass das System, das die JEP hat.
Dieses Ereignis der Nichtwiederholung ist das zweite nach Juan Frio, Norte de Santander, wo die Aussagen von Salvatore Mancuso gehört wurden.
Das kolumbianische Außenministerium organisierte das Treffen, an dem Delegierte aus Spanien, Schweden, der Schweiz, Ecuador, Kuba, Katar, Nicaragua, Honduras, Argentinien, Uruguay und der Dominikanischen Republik sowie Vertreter der Mission zur Unterstützung des Friedensprozesses in Kolumbien und der OAS teilnahmen.
Quelle: Columbia Informa CI CZ/FC/17/08/2023/19:40
Aus: Ausgabe vom 10.08.2023, Seite 8 / Abgeschrieben
DKP: Verfassungsbeschwerde gegen Maulkorb für Kriegsgegner
Die Vorsitzenden der DKP haben Verfassungsbeschwerde gegen einen neugefassten Paragraphen des Strafgesetzbuches eingelegt. In einer Pressemitteilung vom Mittwoch heißt es dazu:
Die beiden Vorsitzenden der Deutschen Kommunistischen Partei (DKP), Wera Richter und Patrik Köbele, haben gemeinsam mit dem Juristen Dr. Dr. Ralf Hohmann Verfassungsbeschwerde gegen die Neufassung des Paragraphen 130 des Strafgesetzbuches eingelegt. Sie argumentieren, dass die Neufassung des Paragraphen einen Verstoß gegen die grundgesetzlich gesicherte Meinungsfreiheit und die grundgesetzlich vorgeschriebene Bestimmtheit eines Gesetzes darstellt. Die Verfahrensweise der parlamentarischen Beschlussfassung als sogenanntes Omnibusgesetz, also als Anhang eines anderen Gesetzes ohne inhaltlichen Bezug, wird vor allem deshalb moniert, weil das Gesetz »ohne tiefgehende parlamentarische Befassung durchgepeitscht worden ist«.
Richter und Köbele erklären weiter: »Wurde der Volksverhetzungsparagraph in der Vergangenheit viel zu selten gegen die Leugnung und Verharmlosung der Verbrechen des Faschismus eingesetzt, so soll er jetzt als Waffe gegen alle die genutzt werden, die die Aufrüstungs- und Kriegspolitik, die die NATO-Gefolgschaft der Bundesregierung ablehnen. Das ist Teil einer Politik des reaktionären Staatsumbaus, die wir auf allen Ebenen, auch auf der juristischen, bekämpfen. Wir gehen davon aus, dass die Neufassung des Gesetzes verfassungswidrig ist.«
kurzelinks.de/verfassungsbeschwerde
Quelle: junge welt v.10.08.2023/ Christian Ditsch
Patrik Köbele, Vorsitzender der DKP, auf der XXI. Internationalen Rosa-Luxemburg-Konferenz (Berlin, 9.1.2016)
Katholische "Heime" in Französisch-Guayana: Indigene Gemeinschaften mobilisieren sich für Reparationen
Die erzwungene Assimilation indianischer und kastanienbrauner Kinder in katholischen Internaten, die in dem Buch Allons enfants de la Guyane enthüllt wird, könnte Gegenstand einer Wahrheits- und Versöhnungskommission sein. Darauf hoffen viele indigene Organisationen.
"Es war notwendig, den Indianer zu töten, aber den Mann zu behalten." So fasst Alexis Tiouka, ein indigener Aktivist, die elf Jahre seines Lebens zusammen, die er in den "Häusern" verbracht hat. Diese katholischen Residential Schools nahmen ab den 1930er Jahren indianische und kastanienbraune Kinder auf, um sie unter dem Deckmantel des Zugangs zu Bildung zu evangelisieren und "sozial zu assimilieren".
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Dieses System wurde 1935 in Mana eingeführt und 1949, nachdem Französisch-Guayana ein Departement geworden war, vom Staat genehmigt, indem es die Unterbringung von Kindern und die Entwicklung von Heimen öffentlich finanzierte.
Das im September erschienene Buch der Journalistin Hélène Ferrarini, Allons enfants de la Guyane, wirft ein grelles Licht auf diesen verschütteten Teil der Geschichte Guayans. Eine Geschichte, die immer noch andauert, denn ein letztes Heim befindet sich noch in Saint-Georges-de-l'Oyapock und wird von etwa sechzig Kindern aus Trois-Sauts, einem Dorf ohne Schule, besucht.
Internatsschule von Saint-Laurent-du-Maroni, 1964. © Foto: AGFMM
Die Untersuchung unseres Kollegen legt die ersten Meilensteine eines Testimonials. Von den 2.000 Kindern, die durch die Heime gingen, "haben etwa vierzig ehemalige Bewohner in dem Buch ausgesagt, aber es gibt noch viel zu enthüllen", erklärt Hélène Ferrarini während einer Debatte, die am 10. Dezember im Eldorado-Kino Cayenne organisiert wurde.
Sie ist der Meinung, dass "jedes Haus, von Iracoubo, Sinnamary, Maripasoula..., eine spezifische Forschung verdient, weil es nicht so viele gibt, außer der Pionierarbeit von Françoise Armanville", die vor zehn Jahren veröffentlicht wurde.
Aber "seit der Veröffentlichung des Buches gibt es einen Schneeballeffekt, ein Bedürfnis, die Wahrheit zu sagen, Bewusstsein und Mut zu sprechen. Die Dinge werden sich ändern, wenn die ehemaligen Bewohner sich entscheiden, ihre Geschichten zu erzählen", sagt der Anwalt Alexis Tiouka, der sich für die Anerkennung der indigenen Völker von Französisch-Guayana einsetzt.
Das Bedürfnis, frei zu sprechen, ist dringend, da direkte Zeugen allmählich verschwinden, wie Jean Appolinaire, ein Kalin'a, der im Juni 2021 starb und dessen Geschichte Gegenstand eines Kapitels des Buches ist.
"Es ist sehr schwierig, über das zu sprechen, was wir erlebt haben"
An diesem Abend erzählten ehemalige Internatsschüler im Beisein von Hélène Ferrarini, wie sie von ihren Familien getrennt und in katholische Residential Schools geworfen wurden.
Wie Alexis Tiouka, der im Alter von sechs Jahren in einem Heim untergebracht wurde: "In den Heimen mussten wir uns vor den Ordensleuten verbeugen, das wurde uns eingetrichtert. Unsere Haare wurden wie beim Militär rasiert, während sie für uns Kalin'a eine Quelle des Stolzes und der Spiritualität sind. Haare sind in unserer Kultur sehr wichtig. All diese Regeln wurden auferlegt. Wir wurden die ganze Zeit diskreditiert und gedemütigt. Es ist sehr schwierig, über das zu sprechen, was wir erlebt haben."
"Was mich am meisten verletzt hat, war, dass ich meine Sprache nicht mehr sprechen konnte", sagt Eleonore "Kadi" Johannes, die mit vier Jahren ins katholische Internat kam. "Die Heime prägten den Rest meines Lebens. Es ist kein Zufall, dass ich auch heute noch ein wütender Aktivist bin. Es ist eine Frage des Überlebens", sagt der Sprecher des Kollektivs namens Or de question.
Wenn diese Aktivisten der indianischen Sache ihre Stimme erheben, "dann nur, um zu vermeiden, dass sich das gleiche Muster wiederholt, das heute andere Namen trägt: Gastfamilie, Internat", betont Alexis Tiouka. Vielleicht liegt es an der Art der Veranstaltung, aber unter den Interventionen des Publikums sticht eine Stimme hervor. Das ist die von Jean-Paul Fereira, Bürgermeister von Awala-Yalimapo und erster Vizepräsident der territorialen Gemeinschaft. Er wurde in den 1970er Jahren geboren und gehört zu der letzten Generation, die das Mana-Heim vor seiner Schließung in den 1980er Jahren besucht hat.
Roucou war, wie andere kulturelle Verbindungen, den Bewohnern verboten. Nur Hängematten waren erlaubt. © Foto: Boris R-Thébia
Als er um das Buch gebeten wurde, hatte er noch nie zuvor über seine Erfahrungen gesprochen und ein wertvolles Zeugnis für die gedämpfte Einrichtung des Kinos abgelegt.
"Als wir in das Internat kamen, bekamen wir eine Nummer. Ich war die Nummer 11. Ich erinnere mich noch heute daran. Es gab körperliche und sexuelle Misshandlungen, aber viele Menschen wollen nicht darüber reden. Auch wenn das Heim geschlossen ist, ist es ein aktuelles Ereignis, weil wir es in unseren Köpfen, in unseren Adern, in unserem Fleisch leben. Ich möchte Hélène Ferrarini für dieses Buch danken, aber ich bedauere die Tatsache, dass es oft die anderen sind, die für uns sprechen, wenn es um indigene Völker geht, die für uns sprechen."
"Diese Geschichte ist schmerzhaft, traumatisch und tabuisiert", erklärt Boris Thebia, ein Guainese-Dokumentarfotograf, der seit sieben Jahren in Kanada lebt. Dort erfuhr die indigene Bevölkerung die gleiche erzwungene Assimilation durch Bildung in großem Umfang (150.000 untergebrachte Kinder). Eine Geschichte, die mit der der Häuser in Guayana übereinstimmt, die Boris Thébia bekannter machen möchte. In Kanada sei dies "ein echtes soziales Problem", seit die Regierung 2009 mit der Arbeit an Anerkennung und Reparationen begonnen habe.
"Die Geschichte von Guayana könnte auf die Vereinigten Staaten, Australien, Skandinavien übertragen werden, überall dort, wo die indigene Bevölkerung dies erlebt hat. In all diesen Ländern wurden Wahrheits- und Versöhnungskommissionen eingerichtet, um dieses Trauma zu reparieren. Nicht in Frankreich", erklärt Juraprofessor Jean-Pierre Massias, Präsident des Louis-Joinet-Instituts, das sich auf Übergangsjustiz spezialisiert hat. "Eine der Konsequenzen des Buches, um das Trauma zu überwinden, könnte ein universitäres Forschungsprogramm und eine Wahrheits- und Versöhnungskommission sein", fügt er hinzu.
In Kanada (hier in der Provinz Manitoba, 1940) wurden Kinder in "Internatsschulen" untergebracht. 150.000 Menschen erlebten dieses erzwungene Assimilationssystem, so staatliche Untersuchungen zwischen 2009 und 2015. © Fotothek und Archiv Kanada
"Geben Sie zu, dass es in Frankreich passiert ist"
In Zusammenarbeit mit dem Gewohnheitsgrossen Rat (GCC) und zahlreichen indigenen Organisationen (Foag, Onag, JAG, Copag) kam Jean-Pierre Massias nach Guayana, um rechtliche Schritte in Anerkennung der erlittenen Gewalt einzuleiten. Diese Kommission, die sich aus Experten (Juristen, Psychiatern, Historikern, Opfern, Anthropologen) zusammensetzte, hatte zum Ziel, "Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, Verstöße zu identifizieren, den Opfern zuzuhören, Verantwortlichkeiten zu bestimmen, Maßnahmen zur Wiedergutmachung und Reorganisation der Gesellschaft vorzuschlagen, um zu vermeiden, dass sich dieselben Fakten wiederholen", sagt der Rechtsexperte, der in Palästina und in Afrika gearbeitet hat. "Das sind die vier Prinzipien der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nicht dazu da ist, eine Regierung zu verurteilen, sondern im Namen der Würde Wiedergutmachung zu erwirken."
Unter den möglichen Wiedergutmachungen werden die symbolischen – "Entschuldigung, Errichtung von Denkmälern, Rückgabe gestohlener Gegenstände" – am häufigsten verwendet. "Schwer zu quantifizierende und sehr teure" finanzielle Reparationen werden nach der Erfahrung von Jean-Pierre Massias selten verwendet.
"Wir könnten so weit gehen, dass wir kulturelle Identität anerkennen. Um die Bewahrung der indigenen Sprache und Kultur zu gewährleisten und damit das System wieder aufzubauen, indem soziale Reformen vorgeschlagen werden, insbesondere im Bildungsbereich", hofft der Rechtsexperte.
Im Moment ist Guayana weit von dieser Anerkennung entfernt. Der Gewohnheitsgrosse Rat organisierte Mitte Dezember ein Seminar, um das Projekt der Wahrheits- und Versöhnungskommission (TRC) zu diskutieren. Das Budget wurde jedoch von der Präfektur, der Verwaltungsorganisation, die für das Vertretungsorgan zuständig ist, eingefroren.
Eine Budgetkürzung von "15.000 Euro", so Christophe Yanuwana Pierre, der Vizepräsident des Unternehmens. Und das nicht wegen leerer Kassen. Laut Christophe Pierre waren Anfang Dezember "85.000 Euro Budget im GCC übrig, von insgesamt 195.000 für 2022. Seitdem wurde als Zeichen der verstärkten Aufsicht auch das Budget (25.000 Euro) für das Wohlstandstreffen vom 17. bis 18. Dezember ausgesetzt.
Dänemark, Finnland, Kanada und die Vereinigten Staaten haben alle dieses "Instrument zur Erneuerung der Demokratie, das ist die TRC", aktiviert, sagt Jean-Pierre Massias, "nicht Frankreich". Eine "ganz ähnliche" Kommission gab es zwar während des Skandals um die "Reunionesen der Creuse", bei denen Kinder aus dem Kinderfürsorgesystem ohne ihre Zustimmung in französische Departements verlegt wurden, die von Landflucht bedroht waren, aber "Beispiele bleiben rar", sagt der Jurist. "Das Hindernis für die Umsetzung ist nicht rechtlicher oder finanzieller, sondern psychologischer Natur: zuzugeben, dass es in Frankreich passiert ist."
Um diese symbolische und historische Anerkennung dessen, was einem kolonialen Verbrechen gleicht, zu erreichen, muss das guyanische Narrativ "strukturierter sein, indem zum Beispiel die Kirche eingeladen wird, zu diesem Thema zu sprechen", erklärt der Präsident des Joinet-Instituts, der gekommen ist, um eine Methode zu destillieren und Fragen zu beantworten: Was ist der Zweck einer TRC? Wie sollte man es einrichten, welche Mission hätte es? Diese Fragen wurden während eines Seminars zum Thema "Aborigines und Schule, Wiedergutmachung von Ungerechtigkeit" diskutiert und bearbeitet, das am 13. Dezember an der Universität von Guayana stattfand.
An einem Nachmittag traf sich der GCC zu einer Sonderversammlung und legte den Grundstein für die Einrichtung einer Wahrheits- und Versöhnungskommission. Ein Bericht über diese Arbeit ist in Vorbereitung. Es wird der erste Schritt zur Eröffnung eines TRC sein.
"Wir müssen daher eine Machbarkeitsstudie vor Ort für drei Monate starten. Dann ein bis zwei Jahre Arbeit, um Zeugen zu hören, Verantwortlichkeiten festzulegen und Abhilfemaßnahmen vorzuschlagen, die in einem Bericht festgehalten werden sollen", erklärt Jean-Pierre Massias. Ein Projekt, das finanzielle Mittel benötigt, um ein Expertenteam aufzubauen, eine Aneignung durch die Indianer und den politischen Willen, es ins Leben zu rufen.
Zu diesem Zweck ist bereits Lobbyarbeit bei Parlamentariern im Gange. Darüber hinaus fiel das Seminar mit einem Besuch der Präsidentin der Nationalversammlung, Yaël Braun-Pivet, in Französisch-Guayana zusammen, die nach Camopi reiste. Sie bestätigte, dass sie informell zu den Häusern und dem Kommissionsprojekt befragt worden sei und dass der Präsident der Versammlung das Thema "frontal" angehen wolle.
"Es ist eine ständige Herausforderung, kleine Kinder aus diesen isolierten Gebieten auszubilden und zu erziehen, ohne ihre Kultur und Geschichte zu vernichten. Über die Bildung hinaus betrifft dieses Thema die Integration und den Respekt der indigenen Bevölkerung in Französisch-Guayana und in ganz Frankreich", erklärte sie.
Ein seltenes Wort von den "Behörden", obwohl weder der Staat noch die Präfektur seit der Veröffentlichung des Buches ein Wort gesagt haben und dem Seminar, zu dem sie eingeladen wurden, ferngeblieben sind. Unsere Bitte um ein Gespräch mit dem Unterpräfekten der Binnengemeinden wurde auch vom örtlichen Vertreter des Staates abgelehnt.
"Wir müssen das Gesetz selbst in die Hand nehmen", sagt Christophe Yanuwana Pierre, Sprecher der Jeunesses autochtones, deren Mutter und Großmutter ehemalige Bewohner der Häuser sind.
Dies sei eine Möglichkeit, die Zivilgesellschaft zum Handeln zu drängen, ohne auf die Zustimmung des Staates zu warten, während "es legitim ist, eine Wahrheits- und Versöhnungskommission in Guayana zu eröffnen, weil die Geschichte der Häuser eine Zeitbombe in der Gesellschaft ist. Sie spielt eine Rolle bei innergemeinschaftlicher Gewalt, bei Selbstmorden und bei der kulturellen Destabilisierung", sagt Jean-Pierre Massias. "Und die Einsetzung einer solchen Kommission könnte andere traumatische Erfahrungen wie die Sklaverei, die Strafkolonie eröffnen ... und anderen Gemeinschaften in Guyana die Möglichkeit zu geben, sich zu emanzipieren."
"Minderheiten sind oft die vorausschauenden", sagte der Abgeordnete Jean-Victor Castor (DDR-Gruppe), der der Vorführung im Eldorado beiwohnte. "Ihr organisiert euch. Vielleicht führt der indigene Kampf zu einer allgemeineren Emanzipation?"
Die indianischen Häuser wären dann der Ausgangspunkt einer größeren Frage: der Assimilation oder Beherrschung der indigenen Völker durch die westliche Welt. Eine Kommission würde es ermöglichen, dieses Ereignis in etwas Systemischeres zu verlagern.
Bildung, der Eckpfeiler
Selbst wenn die Schulen – die letzte, die in Saint-Georges in Betrieb ist, mit der Eröffnung eines Schulkomplexes in der Stadt im September 2023 geschlossen werden sollten, so die Territorialbehörde von Französisch-Guayana (CTG) – "hört die Geschichte nicht auf und ein Kontinuum von Integrationsschwierigkeiten, Gewalt und Armut geht weiter", analysiert Jean-Pierre Massias. die sich für tiefgreifende systemische Reformen einsetzt, insbesondere im Bildungsbereich.
Die Schulbildung indigener Kinder und ihre Unterbringung sind auch im Jahr 2022 wichtige Themen. Nach Angaben von Libération sind derzeit etwa 300 Schüler aus abgelegenen Gemeinden in Internaten oder bei Gastfamilien untergebracht, meist an der Küste und ab der sechsten Klasse, da es keine lokalen Schulen gibt. Das ist alles andere als ideal und führt zu Schulabbrüchen.
Die CTG arbeitet seit einem Jahr an einer neuen Richtlinie für Gastfamilien, um die zahlreichen Funktionsstörungen dieses Systems zu beheben.
Aus diesem Grund könnten über die Anerkennung der Gewalt durch den Staat hinaus Bildungsfragen eine zentrale Rolle bei den von der Wahrheits- und Versöhnungskommission vorgeschlagenen Maßnahmen zur Nichtwiederholung spielen.
"Bildung ist ein Menschenrecht an sich und ermöglicht die Verwirklichung anderer Rechte", erinnert Alexis Tiouka im Vorwort zu Allons enfants de la Guyane. Diese Haltung ähnelt der des Vertreters von Französisch-Guayana von Unicef, der UN-Organisation für Kinder, die an dem an der Universität organisierten Seminar teilnahm.
Laut einem Bericht der Beobachtungsstelle für sprachliche Praktiken aus dem Jahr 2017 werden in Französisch-Guayana etwa 20 "Erstschulsprachen" verwendet. Seit 1998 ermöglicht das muttersprachliche Lautsprechersystem den Unterricht in diesen Regionalsprachen. Dies ist eine der seltenen Bemühungen, die Bildungseinrichtung an indigene Schüler anzupassen.
"Bildung ist eng mit Fragen des Kinderschutzes oder der Gastfamilien verflochten, denn das Wohnen in Französisch-Guayana ist aufgrund seiner Abgeschiedenheit ein Faktor für den Zugang zu Bildung und den Bildungserfolg. Das ist eine der Besonderheiten hier, zusammen mit den Sprachen", bemerkt David Chenu.
Während des Seminars leitete er einen Workshop über die Lebensrealitäten indigener Schüler: Unterkunft an der Küste, Transport, Mobilität, Verbindung zwischen Familie und Schule. Zwischen 60 und 70 Personen nahmen teil, verglichen mit 30 beim CVR-Workshop, ein Zeichen für das starke Interesse an diesen alltäglichen Themen.
Am Ende dieses Workshops wurden mehrere Beobachtungen gemacht und ein Bericht wird in den kommenden Wochen verfasst. Sie sind nicht neu und erfordern zunächst eine engere Anbindung an die Bildungseinrichtung. "Das wäre zum Beispiel in Trois-Sauts relevant, wo es ein Potenzial von 150 zukünftigen Sekundarschülern gäbe", betont David Chenu.
Zweitens die Notwendigkeit, die indianische Kultur an der Küste zu fördern, "mit Ideen wie der Vervielfachung der Zahl der indianischen Kontaktstellen in den Schulen, in denen indigene Schüler willkommen sind. Diese Anlaufstelle würde eine Verbindung schaffen, um die schulischen Mechanismen zu verstehen, die gleiche Sprache zu sprechen, Blockaden zu vermeiden und schließlich einen Schulabbruch zu vermeiden", sagt der Unicef-Delegierte.
Nur eine Schule auf der Insel Cayenne hat laut David Chenu eine solche Stelle. Wir waren nicht in der Lage, diese Informationen mit der Schulbehörde abzugleichen.
Dritte Beobachtung: die Notwendigkeit, die Beteiligung von Kindern und Familien an bestehenden Systemen zu erhöhen, um ein besseres Verständnis und eine bessere Unterstützung zu erreichen.
"Wir müssen sie einbeziehen, um darüber nachzudenken, was sich ändern könnte, damit die Regeln nicht nur von den Institutionen festgelegt werden. Dadurch ist es möglich, mehr Verbindungen zu schaffen, um zum Beispiel Notfallmechanismen einzurichten, wenn es Bedenken gibt", erklärt David Chenu.
Während des Workshops wurde auch mehr Transparenz gefordert, damit alle die Lebensrealitäten von Kindern und Familien verstehen können, "und um zu vermeiden, dass junge Menschen auf der Straße landen, wenn die Internate an Wochenenden oder in den Ferien schließen", betont der Unicef-Vertreter.
"In Französisch-Guayana gibt es viel zu tun, aber wir könnten uns von dem inspirieren lassen, was zum Beispiel in Polynesien getan wurde, wo die Inseln über die Oberfläche Europas verstreut sind. Die Antwort dort sind weiterführende Schulen mit mehreren Standorten, das ist eine Idee."
Es steht viel auf dem Spiel: Lokale Einrichtungen, die in der Lage sind, eine angemessene Ausbildung anzubieten, damit die Wohnungen nicht einfach durch eine anders benannte Struktur ersetzt werden, die die gleichen Ergebnisse liefert.
Quelle: Progressive international, August 2023
Aus: Ausgabe vom 27.07.2023, Seite 1 / Titel
KINDERARMUT
Jugend ohne Zukunft
Jedes vierte Kind in der BRD ist arm. Ampelkoalition priorisiert Aufrüstung und sagt Kindergrundsicherung faktisch ab
Von Gudrun Giese
Die Massenverarmung in der BRD schreitet voran. Den jüngsten Beweis dafür lieferte das Statistische Bundesamt am Mittwoch. Denn nach Zahlen der Behörde ist die Anzahl armer Kinder im vergangenen Jahr hierzulande gestiegen: Mittlerweile ist es jedes vierte. Betroffen sind vor allem Kinder und Jugendliche aus Elternhäusern mit »niedrigem Bildungsabschluss«, wie es heißt. Hinlänglich bekannt, bedarf der erneute Beleg für das soziale Scheitern dieser Gesellschaft einer behördlichen Einordnung: Armut sei ein »mehrdimensionales Phänomen« und könne sich »nicht nur in finanziellen, sondern auch in sozialen Faktoren niederschlagen«, hieß es. Danke für nichts.
Konkret sind der Erhebung zufolge 37,6 Prozent der unter 18jährigen arm, wenn ihre Eltern über einen Haupt- oder Realschulabschluss, aber keinen beruflichen Abschluss verfügen. Kinder aus Familien mit mittlerem Bildungsabschluss waren in 14,5 Prozent der Fälle arm. Bei Eltern mit Hochschul- oder Meisterabschluss lag die Quote mit 6,7 Prozent deutlich niedriger.
Die Ergebnisse, über die das Statistische Bundesamt berichtete, entstammen der Europäischen Gemeinschaftsstatistik über Einkommen und Lebensbedingungen, der amtlichen Hauptdatenquelle für die Messung von Armut und Lebensbedingungen in allen EU-Ländern. Danach gilt als »armutsgefährdet« (Technokratensprech für »arm«), wer über weniger als sechzig Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung verfügt. Für Alleinlebende lag der Schwellenwert in der BRD im vergangenen Jahr bei 1.250 Euro netto monatlich, für zwei Erwachsene mit zwei Kindern im Alter unter 14 Jahren bei 2.625 Euro.
Nach diesem Maßstab ist die Situation in der BRD im Europäischen Vergleich besonders gravierend: In zwei Dritteln aller EU-Staaten ist die Kinderarmut niedriger. Laut Statistikern war in Slowenien mit 10,3 Prozent, in Tschechien mit 13,4 Prozent und in Dänemark mit 13,8 Prozent die »Armutsgefährdung« bei Kindern am niedrigsten. Am höchsten fielen die Werte mit 41,5 Prozent in Rumänien, 33,9 Prozent in Bulgarien und 32,2 Prozent in Spanien aus. In absoluten Zahlen waren im Jahr 2022 rund 20 Millionen Kinder und Jugendliche EU-weit arm.
Würde in der BRD ab kommendem Jahr eine Kindergrundsicherung eingeführt, die diesen Namen verdient, könnte die Armut unter Minderjährigen reduziert werden. Doch Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) will nur zwei Milliarden Euro dafür bereitstellen – viel zu wenig, um den Betroffenen ernsthaft zu helfen, wie Sozialverbände und Gewerkschaften seit Wochen unisono kritisieren. Während Familienministerin Elisabeth Paus (Bündnis 90/Die Grünen) sich inzwischen von ihrer ursprünglichen – ohnehin zu niedrigen – Forderung von zwölf Milliarden Euro verabschiedet hat, erklärte Armutsforscher Christoph Butterwegge im Gespräch mit dieser Zeitung bereits im April, dass mehr als 20 Milliarden Euro nötig wären, um Kinderarmut wirksam zu bekämpfen.
20 Milliarden Euro – das ist exakt die Summe, die Verteidigungsminister Boris Pistorius nun allein für neue Artillerie- und Panzermunition bei Rheinmetall und Co. ausgeben will, wie er am Montag dem Spiegel erklärte. Die Äußerung des kriegsfreudigen Ministers unterstreicht erneut eindrücklich die Prioritäten der Ampelkoalition: Da stehen Aufrüstung und Krieg – insbesondere zum Leidwesen der armen Kinder in diesem Land – deutlich vor Bemühungen für Armutsbekämpfung, Bildung und Frieden.
Uelle¨junge Welt v.27.07.2023/ imago images/photothek
Von der Ampelkoalition haben Kinder und Jugendliche nicht viel zu erwarten
UN-Generalsekretariat verurteilt den Einsatz von US-Streumunition durch Kiew
21 Juli 2023 21:47 Uhr
Nach offiziellen Angaben aus Washington setzt die Ukraine bereits seit einer Woche aus den USA gelieferte Streumunition ein. Das Generalsekretariat der UNO zeigte sich am Freitag besorgt über diese Tatsache.
Quelle: www.globallookpress.com © Giada Papini Rampelotto/EuropaNe
Berichte über den Einsatz von US-Streumunition durch Kiew seien besorgniserregend, sagte der Sprecher des UN-Generalsekretärs, Stéphane Dujarric, bei einem Briefing am Freitag.
"Wir haben diese Berichte gesehen, sie sind sehr beunruhigend. Wie wir bereits gesagt haben, sollten diese Arten von Munition der Vergangenheit angehören und nicht mehr eingesetzt werden", sagte er.
Am 7. Juli verkündete US-Präsident Joe Biden die Entscheidung, dem Kiewer Regime Streumunition zur Verfügung zu stellen, und eine Woche später teilte das Pentagon mit, dass die Ukraine diese Munition bereits erhalten habe, und zwar nicht nur von den Vereinigten Staaten, sondern auch von anderen Ländern.
Nach Angaben des Verteidigungsministeriums haben die ukrainischen Streitkräfte bereits Streumunition zum Beschuss des Donbass eingesetzt. Dies zeige, dass die ukrainischen Truppen ihre Aufgabe darin sähen, so viele Zivilisten wie möglich zu töten, so der offizielle Sprecher des Ministeriums, Igor Konaschenkow.
Auch US-Medien berichteten, dass die durch das Pentagon gelieferte Streumunition bereits im Einsatz sei. Der Koordinator für strategische Kommunikation des Nationalen Sicherheitsrats des Weißen Hauses, John Kirby, bestätigte dies am Donnerstag. Nach seinen Worten setze die Ukraine bereits seit einer Woche von den USA gelieferte Streumunition ein:
"Sie (die Munition - Anm. d. Red.) ist seit etwa einer Woche auf dem Schlachtfeld im Einsatz. Wir erhalten Rückmeldungen von den Ukrainern, sie setzen sie sehr effektiv und angemessen ein", sagte Kirby gegenüber Reportern.
Die internationale Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch erklärte, dass die Weitergabe dieser Waffen an Kiew unweigerlich zu langfristigem Leid der Zivilbevölkerung führen und die internationale Kritik an ihrem Einsatz aushöhlen würde.
Quelle: RT v.21.07.2023/Bild Stéphane Dujarric.
Aus: Ausgabe vom 14.07.2023, Seite 1 / Titel
ERNÄHRUNGSPOLITIK
735 Millionen hungern
Welthungerhilfe legt Jahresbericht vor: Zahl chronisch Unterernährter weiter auf »hohem Niveau«. Verschärfung der Lage befürchtet, vor allem für Frauen
Von Oliver Rast
Sie merkte kurz auf – sagte dann entschieden: »Darauf ein klares Ja!« Denn: »Hunger ist weiterhin weiblich, oder?« hatte der jW-Autor Augenblicke vorher die Präsidentin der Welthungerhilfe, Marlehn Thieme, gefragt. Eine spezielle Ungleichheit auch nach Jahrzehnten von »Entwicklungsarbeit« im globalen Süden.
Der Anlass der Unterredung: Am Donnerstag vormittag präsentierte die Nichtregierungsorganisation (NGO) ihren Jahresbericht 2022 in einem Verwaltungstrakt in Berlin-Mitte an der Friedrichstraße. »Wir sind damit sehr aktuell«, betonte Thieme. Tags zuvor hatte bereits die UN-Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation (FAO) ihren Welternährungsbericht (SOFI) vorgestellt. Die Zahl Hungernder weltweit bleibe auf »zu hohem Niveau«. Im vergangenen Jahr waren 735 Millionen Menschen unterernährt; chronisch, wohlgemerkt. Das seien 122 Millionen mehr als vor dem ersten Coronajahr 2019. Die »Hungertreiber«, welche sind das? Auf einen Nenner gebracht, die »drei Ks«: Krise, Krieg und Klimawandel. Thieme: »Extrem dramatisch ist die Situation am Horn von Afrika.« Nach vierjähriger Dürreperiode seien rund 36 Millionen Bewohner auf humanitäre Überlebenshilfe angewiesen, sonst erwartet sie der Hungertod.
Dennoch, Thieme versprühte Optimismus. Hunger sei zwar eines der größten Probleme der Welt, aber eben auch ein lösbares. Deshalb halte sie am Ziel »Zero Hunger« fest. Nicht irgendwann, sondern 2030. So hatte es die UN samt »17 Nachhaltigkeitszielen« 2015 beschlossen. Das Problem: Es passt nicht mit der Streichliste im BRD-Haushalt zusammen. Für das Bundesentwicklungsministerium (BMZ) sollen im kommenden Jahr 700 Millionen Euro weniger bereitstehen. Thieme diplomatisch: »Wir haben natürlich auch Verständnis für die schwierige Haushaltslage.« Ihr Generalsekretär Mathias Mogge wurde hingegen etwas deutlicher. Vor allem die BMZ-Posten »Krisenbewältigung« und »Wiederaufbau« seien »Sparziele«. Nicht nachvollziehbar – und, so Mogge: »ein fatales Signal«. Dabei sei politischer Wille bei der Hungerbekämpfung zentral. Was tun? »Wir müssen den Druck aufrechterhalten, immer wieder die Dringlichkeit des Handelns klarmachen.« Wer ist »wir«? Die Zivilgesellschaft, NGOs etwa, hierzulande und vor Ort in betroffenen Regionen.
Nachgehakt bei der Präsidentin: »Frau Thieme, Sie fordern ›grundlegende Reformen für ein gerechtes und nachhaltiges Ernährungssystem‹. Was heißt das konkret?« möchte jW wissen. Das beispielsweise: Andere Ernährungsweisen im Norden, keine Lebensmittelverschwendung und nicht zuletzt funktionierende Lieferketten.
Überzeugend klingt das nicht, findet Philipp Mimkes. »Zunächst, wir müssen endlich begreifen, dass Hunger kein Schicksal ist«, befand der Geschäftsführer der Menschenrechtsorganisation FIAN Deutschland am Donnerstag im jW-Telefonat. Hunger sei meist ein Resultat von Benachteiligung und Ausgrenzung. Gestärkt werden müssten lokale Bäuerinnen, Hirtenvölker und Kleinfischer. Sie produzierten im globalen Süden rund zwei Drittel aller Nahrungsmittel. Statt dessen verließen sich politisch Verantwortliche »einseitig auf die jahrzehntelangen Versprechen der Agrar- und Ernährungskonzerne, dass ihr industrielles Produktionsmodell den Hunger beendet«. Nur: Seitdem gebe es immer mehr Hungernde.
Auch Thieme spricht – trotz aller Zuversicht – von Krisen, die zu Katastrophen würden. Ein Indikator: »Neben chronisch Unterernährten sind weitere 900 Millionen Menschen temporär unterernährt.« Tendenz steigend. »Eine echte Verschärfung der Lage, besonders für Frauen.«
Quelle: junge Welt v. 14.04.2023/ Farah Abdi Warsameh/picture alliance / ASSOCIATED PRESS
Keine Nahrung ist kein Schicksal, sondern gemacht: Krise, Krieg und Klimawandel (Mogadischu, 30.6.2022)/
Christian-Ditsch.de
Pressekonferenz zu aktuellen Zahlen des globalen Hungers (v. l. n. r.): Simone Pott, Moderatorin; Marlehn Thieme, Welthungerhilfe-Präsidentin; Mathias Mogge, Welthungerhilfe-Generalsekretär (Berlin, 13.7.2023)
Menschenrechtsrat der UNO verurteilt Koranverbrennung
12 Juli 2023 16:41 Uhr
Die Koran-Verbrennung in Schweden Ende Juni sorgt in islamischen Ländern nach wie vor für Proteste und Wut. Nun hat der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen eine Resolution verabschiedet, die die Aktion verurteilt. Doch es gab auch Gegenstimmen.
Quelle: Legion-media.ru
Nach der viel kritisierten Koran-Verbrennung in Schweden hat der UNO-Menschenrechtsrat gegen die Stimmen einiger europäischer Länder und der USA sowie Costa Ricas eine Resolution verabschiedet. Darin wird die Koran-Verbrennung als Akt der Provokation verurteilt, der eine Verletzung der internationalen Menschenrechtsnormen darstellt. Unter den 47 Ratsmitgliedern gab es heute 28 Ja-Stimmen, zwölf Nein-Stimmen und sieben Enthaltungen.
Mit der Annahme wurde für die nächste Sitzung des Rates eine Debatte darüber beschlossen, wie sich religiöser Hass zeige, was dazu führe und wie dem entgegengewirkt werden könne. Andere konkrete Auswirkungen hat die Resolution nicht.
Im Namen der EU sagte der belgische Botschafter, dass es schwierig sei, die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Aufstachelung zu Hass zu ziehen. Das erfordere eine delikate Balance, die mit dem Text der Resolution nicht gegeben sei. "Vielmehr wird versucht, das internationale Menschenrecht (…) grundlegend zu ändern, indem die strengen Bedingungen, die immer dann gelten, wenn Staaten das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränken wollen, abgeschafft werden", sagte der Botschafter.
Der UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, hatte zum Auftakt der Dringlichkeitsdebatte gestern hetzerische Handlungen gegen Muslime und Angehörige anderer Religionen verurteilt. Er warnte aber davor, die freie Meinungsäußerung pauschal einzuschränken, um "religiöse Lehren vor kritischer Überprüfung zu schützen".
Bei einer Demonstration in Stockholm Ende Juni war vor einer Moschee ein Koran angezündet worden. Mutwillige Koranschändungen gelten im Islam als blasphemisch.
Quelle:RtD. V.12-07.2023/ Symbolbild: Proteste in Karichi, Pakisten, gegen die Koranverbrennung in Schweden. Aufnahme vom 7. Juli 2023.
UN-Bericht: Menschenrechtsverletzungen in der Ukraine nehmen deutlich zu
28 Juni 2023 17:57 Uhr
Die Zahl der Verletzungen des Rechts auf Freiheit und Sicherheit der Person durch ukrainische Sicherheitskräfte hat nach Angaben des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) seit dem 24. Februar 2022 wesentlich zugenommen.
Quelle: Legion-media.ru © Kim Petersen
Die Zahl der Verstöße ukrainischer Truppen gegen Rechte der Menschen auf Freiheit und Sicherheit hat seit dem 24. Februar 2022 dramatisch zugenommen. Dies ist einem jüngsten Bericht des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) zu entnehmen. Demnach dokumentierte das OHCHR zwischen dem 24. Februar 2022 und dem 23. Mai 2023 unter anderem 75 Fälle von willkürlicher Inhaftierung von Zivilpersonen (17 Frauen, 57 Männer und ein Junge). Vor allem handelte es sich dabei um Festnahmen durch Strafverfolgungsbehörden oder die Streitkräfte der Ukraine. Bei einigen der Inhaftierungen sei es zu einem gewaltsamen Verschwindenlassen gekommen, hieß es. Insgesamt 43 im Zusammenhang mit dem bewaffneten Konflikt inhaftierte Personen, 34 Männer und neun Frauen, sollen "glaubwürdige und verlässliche Berichte über Folter und Misshandlungen durch Vollzugsbeamte, Angehörige der Streitkräfte oder Wachpersonal in inoffiziellen Haftanstalten oder – in wesentlich geringerem Maße – in offiziellen Untersuchungshaftanstalten" abgegeben haben.
Zudem sollen ukrainische Strafverfolgungs- und Sicherheitsbeamte von Februar bis März 2022 mehrere Personen ohne Haftbefehl wegen angeblicher Mitgliedschaft in bewaffneten Gruppen der Volksrepubliken Donezk und Lugansk festgenommen haben. Da die vorgeworfenen mutmaßlichen Handlungen sich zwischen 2014 und 2020 ereignet hätten, habe es keine dringende Notwendigkeit gegeben, eine Straftat zu verhindern oder zu beenden. Somit stellten diese Festnahmen unrechtmäßigen Freiheitsentzug dar.
Als besorgniserregend bezeichnet das OHCHR die Tatsache, dass mehrere Zivilisten, die in den von der russischen Armee kontrollierten Gebieten humanitäre Hilfe verteilt hatten, von ukrainischen Behörden verhaftet wurden.
Das OHCHR besuchte nach eigenen Angaben elf Haftanstalten, in denen mit dem bewaffneten Konflikt verbundene Inhaftierte festgehalten wurden. Darüber hinaus dokumentierte das Büro die Nutzung von 29 inoffiziellen Inhaftierungsorten, darunter Wohnungen, Sanatorien, Keller von verlassenen Gebäuden, Polizeireviere, Keller und Verwaltungsräume lokaler Büros des ukrainischen Inlandsgeheimdienstes SBU.
Quelle: RTD. V.28.06.2023/ Palais Wilson, Sitz des Büros des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte, OHCHR, Genf, Schweiz
UN-Berichterstatterin fordert Schließung des US-Gefangenenlagers Guantánamo
Aktualisiert am 27.06.2023, 17:07 Uhr
Guantánamo ist ein dunkles Kapitel in der US-amerikanischen Geschichte. Immer noch werden dort über 30 Gefangene festgehalten. Die UN-Expertin Fionnuala Ni Aolain fordert daher jetzt die sofortige Schließung.
Die Behandlung der verbliebenen Insassen im US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba ist nach Einschätzung einer UN-Sonderberichterstatterin nach wie vor "grausam, unmenschlich und herabwürdigend". "Ich habe beobachtet, dass nach zwei Jahrzehnten der Haft das Leid der Inhaftierten tief und anhaltend ist", sagte Fionnuala Ni Aolain, Sonderberichterstatterin der UN für die Förderung und den Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten bei der Terrorismusbekämpfung. Sie äußerte sich am Montag bei der Vorstellung ihres Berichts vor Journalisten in New York.
Zuvor hatte Ni Aolain als erste UN-Sonderberichterstatterin das Gefangenenlager besucht, mit offizieller Genehmigung der USA. Sie bedankte sich bei den Vereinigten Staaten für die Erlaubnis und betonte, sie habe vollständigen Zugang bekommen. Sie habe auch "bedeutende Verbesserungen" im Vergleich zu früheren Zustandsberichten bekommen.
Dennoch zeichnet Ni Aolain kein gutes Bild von den Umständen in Guantánamo. Die Gefangenen hätten zahlreiche Misshandlungen ertragen und seien nur unzureichend medizinisch versorgt worden. Zudem hätten sie nicht ausreichend Kontakt zu ihren Familien gehabt, sei es durch Besuche oder Anrufe."Die Gesamtheit all dieser Praktiken und Unterlassungen […] kommt in meiner Untersuchung gemäß internationalen Rechts anhaltender grausamer, unmenschlicher und erniedrigender Behandlung gleich", sagte die UN-Sonderberichterstatterin.
UN prangert Menschenrechtsverletzungen in Guantánamo an
Washington müsse sich immer noch mit den eklatantesten Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit den Gefangenen auseinandersetzen: Ihrer geheimen Ergreifung und dem Transfer nach Guantánamo Anfang der 2000er-Jahre und der oftmals massiven Folter durch US-Vertreter in den ersten Jahren nach den Anschlägen vom 11. September.
Priorität habe weiter die Schließung des Gefangenenlagers, das außerhalb der Zuständigkeit der US-Justiz liegt, betonte Ni Aolain.
Im Februar hatte das US-Verteidigungsministerium mitgeteilt, dass mehr als zwei Jahrzehnte nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 noch 34 Häftlinge in dem Gefangenenlager auf Kuba untergebracht sind. Es war nach den Terroranschlägen während der Regierungszeit des damaligen republikanischen Präsidenten George W. Bush errichtet worden, um mutmaßliche islamistische Terroristen ohne Prozess festzuhalten.
In dem Lager, das sich im US-Marinestützpunkt Guantánamo Bay befindet, waren zeitweise fast 800 Menschen inhaftiert. Menschenrechtsorganisationen verlangen seit langem die Schließung – nach der Vorstellung des UN-Berichts bekräftigte Amnesty International diese Forderung. (afp/dpa/the)
Quelle: Ein US-Soldat läuft durch die Gänge des berüchtigten Gefangenenlagers Guantánamo Bay. Eine UN-Sonderberichterstatterin fordert die Schließung der Einrichtung. © imago/ZUMA Press
UN-Menschenrechtsrat verurteilt "illegale" Sanktionen
Der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen (VN) hat eine Resolution verabschiedet, in der der Einsatz einseitiger Zwangsmaßnahmen als Mittel zur Ausübung politischen und wirtschaftlichen Drucks, insbesondere auf die am wenigsten entwickelten Länder und Entwicklungsländer, verurteilt wird.
Die Resolution wurde von Aserbaidschan im Namen der Bewegung der blockfreien Staaten während der 52. Sitzung des Gremiums in Genf vorgestellt und enthält 35 Punkte, die den Einsatz einseitiger Zwangsmaßnahmen, auch Sanktionen genannt, und deren negative Auswirkungen auf die Wahrnehmung der Menschenrechte kritisieren.
Der Text der Resolution fordert alle Staaten ausdrücklich auf, "die Verabschiedung, Aufrechterhaltung, Durchführung oder Einhaltung einseitiger Zwangsmaßnahmen, die nicht im Einklang mit dem Völkerrecht, dem humanitären Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen stehen, einzustellen".
Der Text der Resolution fordert alle Staaten ausdrücklich auf, "die Verabschiedung, Aufrechterhaltung, Durchführung oder Einhaltung einseitiger Zwangsmaßnahmen, die nicht im Einklang mit dem Völkerrecht, dem humanitären Völkerrecht und der Charta der Vereinten Nationen stehen, einzustellen".
Das Dokument fordert ferner die "Abschaffung" einseitiger Zwangsmaßnahmen und verurteilt deren Anwendung und Durchsetzung als "Druckmittel" durch "bestimmte Mächte", um die Souveränität der Staaten bei der Bestimmung ihrer politischen, wirtschaftlichen und sozialen Systeme einzuschränken, insbesondere gegenüber den am wenigsten entwickelten Ländern und Entwicklungsländern.
Die Sprache spiegelt den zunehmenden Einsatz von Sanktionen durch die Vereinigten Staaten und ihre Verbündeten als Zwangsmittel gegen Staaten wider, die nicht mit den Interessen Washingtons übereinstimmen. Die Zunahme einseitiger Sanktionen wurde von Menschenrechtsexperten unter die Lupe genommen und ihre unverhältnismäßigen Auswirkungen auf Frauen, Kinder und andere gefährdete Gruppen hervorgehoben.
Ana Gabriela Salazar, Forschungskoordinatorin der venezolanischen Menschenrechtsorganisation SURES, sagte gegenüber Venezuelanalysis, dass die Abstimmung im Menschenrechtsrat die "Heuchelei" von Ländern wie den USA entlarvt, die behaupten, sich für die Menschenrechte in der Welt einzusetzen, und die "politische Instrumentalisierung der Menschenrechte" im Dienste des US-Imperialismus aufdeckt.
"Auf der einen Seite behaupten diese Länder, Verteidiger und Förderer der Menschenrechte auf globaler Ebene zu sein, und im Gegensatz dazu unterstützen sie die Verhängung dieser illegalen Maßnahmen gegen die Völker der Welt", sagte Salazar.
Seit 2017 haben die USA und ihre Verbündeten ein weitreichendes Sanktionsregime gegen Venezuela verhängt, das erstmals vom ehemaligen US-Präsidenten Donald Trump umgesetzt und von seinem Nachfolger Joe Biden weitgehend beibehalten wurde. Nach den Finanzsanktionen gegen PDVSA im Jahr 2017 verhängte das US-Finanzministerium 2019 ein Ölembargo, das die Haupteinnahmequelle des Landes effektiv blockierte, was die wirtschaftliche Entwicklung des Landes stark eingeschränkt hat. Analysten schätzen die Verluste auf bis zu 30 Milliarden US-Dollar pro Jahr.
Salazar unterstützt die Behauptung, dass einseitige Zwangsmaßnahmen darauf abzielen, die "Unterordnung" eines Staates unter das Diktat eines anderen Staates zu erreichen, was ihrer Meinung nach "eindeutig gegen die Prinzipien der politischen Unabhängigkeit und der Nichteinmischung in Angelegenheiten verstößt, die im Wesentlichen in die innere Zuständigkeit von Staaten fallen".
Die venezolanische Regierung fordert seit langem von den USA die Aufhebung der Sanktionen, die sie für illegal hält, was Washington und seine Verbündeten standhaft abgelehnt haben. Der stellvertretende US-Außenminister für Angelegenheiten der westlichen Hemisphäre, Brian Nichols, erklärte kürzlich, dass Washington die gegen Venezuela verhängten Sanktionen nur dann aufheben werde, wenn es "Fortschritte" bei den Verhandlungen zwischen Regierung und Opposition gebe.
Washington and Caracas appear to be at a stalemate, with Nicolás Maduro government conditioning talks with the hardline opposition on the release of US $3 billion in Venezuelan funds abroad, illegally seized by Washington and allies since 2019. The fund is part of the agreement signed by both the government and the opposition in México City.
The US has also ignored various calls from voices inside the UN, including from High Commissioner for Human Rights Volker Türk, to lift its Venezuela sanctions.
Salazar told Venezuelanalysis that SURES hopes last month's vote will “help make visible the impacts on peoples’ fundamental human rights, as well as the generalized use of unilateral coercive measures and related phenomena such as secondary sanctions and overcompliance.”
Overcompliance refers to instances whereby firms refuse to do business with a sanctioned country due to fear of running afoul of strict US sanctions despite not necessarily violating unilateral coercive measures.
SURES hat sich für die Verteidigung der Menschenrechte vor Ort in Venezuela eingesetzt und zuvor die Arbeit von UN-Gruppen kritisiert, die im Land nicht präsent sind. Im September stellte die Organisation einen Bericht der Unabhängigen Internationalen Untersuchungskommission über die Bolivarische Republik Venezuela in Frage, in dem sie behauptete, dass es den hochkarätigen Vorwürfen von Menschenrechtsverletzungen an Objektivität und Unparteilichkeit mangele.
Die Abstimmung im Menschenrechtsrat verlief weitgehend entlang geopolitischer Linien, was den ehemaligen ecuadorianischen Außenminister Guillame Long dazu veranlasste, als Reaktion auf das Abstimmungsergebnis zu twittern: "Globaler Norden vs. Globaler Süden".
Salazar argumentierte, dass die Abstimmung eine Tendenz zeige, das UN-System mit "zunehmender Häufigkeit" für politische Zwecke zu nutzen, sowie die "Politisierung bestimmter Agenden innerhalb des Menschenrechtsrates".
Sie fügte hinzu, dass sie hoffe, dass die Resolution des letzten Monats Venezuela auch helfen werde, in internationalen Foren zu argumentieren, dass die Verhängung von Sanktionen gegen das Land bei der allgemeinen regelmäßigen Überprüfung des UN-Menschenrechtsrats berücksichtigt werden müsse. Während der letzten Überprüfung Venezuelas forderte Vizepräsidentin Delcy Rodríguez die UN-Mitgliedstaaten ebenfalls auf, das Menschenrechtssystem nicht für politische Zwecke zu nutzen.
Quelle: progressiv international Mai2023
Aus: Ausgabe vom 02.05.2023, Seite 12 / Thema
MENSCHENRECHTSPOLITIK
Allenthalben Doppelmoral
Dokumentiert. Der aktuelle Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik lobt deren »Werteorientierung«. Bei näherem Hinsehen bleibt davon nicht viel
Von Norman Paech
Norman Paech ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft und Öffentliches Recht und saß zwischen 2005 und 2009 für die Partei Die Linke im Deutschen Bundestag. Er schrieb an dieser Stelle zuletzt am 13. Mai 2022 über das Völkerrecht angesichts des Krieges in der Ukraine.
Wir dokumentieren im Folgenden die Stellungnahme Norman Paechs, die dieser am 17. April 2023 in Reaktion auf den 15. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschenrechtspolitik im Ausschuss für Menschenrechte und humanitäre Hilfe des Deutschen Bundestags abgegeben hat. (jW)
Für die Bundesregierung stellen offensichtlich die Menschenrechte den obersten Wert in der Rangfolge ihrer Verpflichtungen in der Außenpolitik dar. Sie garantieren nicht nur den Schutz der Rechte des einzelnen, sondern sie sollen die Menschen auch zur Erkenntnis und Wahrnehmung ihrer Rechte befähigen, um ihre Grundbedürfnisse autonom und selbstbestimmt sichern zu können. Die feministische Pointierung dieser Politik zielt auf die bisher eher vernachlässigten Aufgaben der Nivellierung der Machtverhältnisse zwischen den Geschlechtern und die strukturelle Veränderung der Bedingungen für die Ungleichheit. Dieser neugeschaffene Schwerpunkt verändert aber nicht die grundsätzliche Aufgabe der Menschenrechte, die sozialen, ökonomischen, politischen und kulturellen Grundbedürfnisse aller Menschen herzustellen und zu garantieren.
Feministische Außenpolitik
1. Zu diesem neuen Bekenntnis der Bundesregierung heißt es in dem Menschenrechtsbericht: »Die Bundesregierung verfolgt eine feministische Außenpolitik mit dem Ziel, die Rechte, Ressourcen und Repräsentanz von Frauen und Mädchen weltweit zu stärken und gesellschaftliche Diversität zu fördern.« Soweit damit die Gleichstellung von Frauen und Mädchen weltweit, die Verurteilung sexueller Gewalt und Vergewaltigungen als Mittel des Krieges, der gleiche Zugang zu Arbeit, Ressourcen, Geld und sozialer wie politischer Teilhabe und die gleiche gesellschaftliche Repräsentanz von Frauen verfolgt wird, ist diese Politik vorbehaltlos zu begrüßen.
Im Bericht steht jedoch auch: »Die Bundesregierung unterstützt das Engagement der NATO, Geschlechtergleichheit zu fördern und Genderperspektiven in allen NATO-Aktivitäten in politischen, zivilen, und militärischen Strukturen, von Politik und Planung, über Training und Ausbildung, bis zu Missionen und Operationen zu integrieren.« Diese Aussage zeigt die problematische Seite der feministischen Außenpolitik, da Frauenrechte nicht unabhängig von den geforderten Tätigkeiten zum Beispiel in völkerrechtlich zweifelhaften NATO-Einsätzen (Jugoslawien, Afghanistan) gesehen werden können. Sodann dürfen Frauenrechte nicht als Vorwand für militärische (zum Beispiel: in der Ukraine Vergewaltigungen als Begründung für Panzerlieferungen) und völkerrechtlich problematische Sanktionen (zum Beispiel Iran) benutzt werden. Eine solche Praxis würde ein unübersehbar weites Feld von Interventionen in Staaten eröffnen, in denen die Stellung der Frauen nicht unseren Ordnungsvorstellungen entspricht. Angesichts der zunehmend in die Auseinandersetzung um eine neue Weltordnung von den USA eingebundenen NATO mit einem klaren imperialistischen Herrschaftsanspruch, in dem Frauenrechten allenfalls noch eine legitimatorische Funktion übrigbleibt, entspricht diese Inanspruchnahme von Frauenrechten durch den militärischen Einsatz nicht der Intention des menschenrechtlichen Schutzauftrags.
2. Es fällt dabei ferner auf, dass der Bericht eine vollkommen unkritische Stellung zu Sanktionen einnimmt. Sie werden im Bericht nur an einer Stelle erwähnt: »Die schärfste Reaktionsform stellen schließlich Sanktionen dar. Die EU hat im Berichtszeitraum unter der EU-Präsidentschaft ein Menschenrechtssanktionsregime verabschiedet und Personen und Entitäten unter dem Sanktionsregime gelistet, das schwere Menschenrechtsverletzungen sanktioniert. Die Bandbreite der Instrumente gibt der Menschenrechtspolitik Spielraum für ein der jeweiligen Sachlage angepasstes und möglichst effektives Vorgehen«. Mit keinem Wort wird der Bericht des Sonderbeauftragten des UN-Menschenrechtsrats, Idriss Jazairy, vom Mai 2019 erwähnt, der die einseitigen Sanktionen der USA gegen Venezuela, Kuba, und Iran als völkerrechtswidrig bezeichnet hat, da sie »humanitäre Katastrophen von beispiellosem Ausmaßen auslösen« könnten. Jazairy schlussfolgert: »Regime-Change durch Wirtschaftsmaßnahmen, die zur Beschneidung der grundlegenden Menschenrechte und zu Hungersnot führen können, ist nie eine akzeptierte Praxis in den internationalen Beziehungen gewesen.«¹ Der Bericht nimmt auch keine Kenntnis davon, dass die beiden Sonderbeauftragten des UN-Generalsekretärs für das »Oil for Food Program« im Irak, Dennis Halliday und Hans-Christoph Graf Sponeck, ihre Arbeit vorzeitig aufgegeben haben, da sie schwerste menschenrechtliche Bedenken gegen die gegen den Irak verhängten Sanktionen hatten, die durch das OfF-Programm nicht kompensiert werden könnten. Dennis Halliday kommentierte seinerzeit seinen Abschied mit den Worten: »Ich wurde zum Rücktritt getrieben, weil ich mich weigerte, die Anordnungen des Sicherheitsrates zu befolgen, der gleiche Sicherheitsrat, der die völkermordverursachenden Sanktionen eingerichtet hat und diese aufrechterhält, die die Unschuldigen im Irak treffen. Ich wollte nicht zum Komplizen werden, ich wollte frei und öffentlich gegen dieses Verbrechen sprechen. Der wichtigste Grund ist, dass mein angeborenes Gerechtigkeitsempfinden verletzt war und ist angesichts der Gewalttätigkeit der Auswirkungen, die die UN-Sanktionen auf das Leben von Kindern und Familien hatten und haben. Es gibt keine Rechtfertigung für das Töten der jungen, der alten, der kranken, der armen Bevölkerung des Irak. Einige werden Ihnen sagen, dass es die Führung ist, die das irakische Volk bestraft. Das ist nicht meine Wahrnehmung oder Erfahrung, die ich vom Leben in Bagdad gemacht habe«.²
An dieser Stelle fehlt zudem ein Hinweis auf die seit über 60 Jahren gegen Kuba praktizierte völker- und menschenrechtswidrige Embargopolitik der USA. Das Ziel dieser Sanktionen, einen Regimewechsel herbeizuführen, macht sie für sich genommen schon völkerrechtswidrig. Die Folgen des Embargos, der spürbare Versorgungsmangel und die drastischen Einschnitte in den Lebensstandard der Bevölkerung – beides politisch gewollt – widerspricht allen von der deutschen Bundesregierung propagierten Geboten der Menschenrechte. Diese Politik ist ein weiterer Beweis dafür, dass Sanktionen bestimmt nicht die geeigneten Instrumente sind, »die der Menschenrechtspolitik Spielraum für ein der jeweiligen Sachlage angepasstes und möglichst effektives Vorgehen« gibt, wie es die Bundesregierung in dem Bericht behauptet. Die negativen Beispiele, die mit dem Völkerrecht kaum zu vereinbaren sind, ließen sich mit den Sanktionen gegen den Iran und Syrien ergänzen.
3. Der Bericht erwähnt – wenn auch nur am Rande und allgemein – die historische Verantwortung für die Vergangenheit und auch die Vergangenheit des deutschen Kolonialismus. Allerdings fällt auf, dass diese Erwähnung ohne einen Hinweis auf die Kolonialverbrechen in Afrika (Deutsch-Südwest und Deutsch-Südost sowie Kamerun), die Kriegsverbrechen im Zweiten Weltkrieg und den Holocaust geschieht. Gerade aus dieser deutschen Vergangenheit ergaben und ergeben sich immer noch eine bestimmte Verantwortung und Verpflichtung der Außenpolitik.
Kriegspolitik
4. Wichtiger als die innenpolitische Dimension der neuen Außenpolitik, die institutionelle Veränderungen im eigenen Ressort vorsieht, die vorbehaltlos zu begrüßen sind, sind solche Entscheidungen, die offensichtlich eine grundsätzliche außenpolitische Umorientierung in der Kriegs- und Friedenspolitik andeuten. So heißt es in den »Leitlinien des Auswärtigen Amtes für eine feministische Außenpolitik«, dass »feministische Außenpolitik nicht gleichbedeutend mit Pazifismus« sei. Gerade unter dem Eindruck des Ukraine-Krieges zeige sich, »dass im Angesicht brutaler Gewalt Menschenleben auch mit militärischem Mittel geschützt werden müssen«. Selbst wenn es weiter heißt, dass feministische Außenpolitik zugleich der »humanitären Tradition verpflichtet (sei), aus der sich klassische Friedenspolitik und Rüstungskontrolle speise«, fragt sich, ob diese neue Friedenspolitik angesichts des klaren Bekenntnisses der Außenministerin zu einer »Unterstützung bis zum Sieg«, d. h. bis zur erfolgreichen Rückeroberung der von Russland besetzten Gebiete der Ukraine, mit dem Bekenntnis zu den Menschenrechten vereinbar ist. Denn mit dieser Politik der Gewalt als Ultima ratio wird der Wert der territorialen Souveränität über den Wert der Menschenleben und ihrer Sicherheit gestellt, die in unverhältnismäßigem Ausmaß geopfert werden müssen. Da es heute bei Politik und Militär weitgehend einhellige Meinung ist, dass keine der beiden Seiten, weder Russland noch die Ukraine, einen Sieg auf dem Schlachtfeld erringen kann, bedeutet die unbegrenzte Waffenlieferung an die ukrainische Armee die unbegrenzte Fortführung des Krieges und des Verlustes an Menschenleben.
Die Umkehrung der Devise »Territorium vor Menschen« in »Menschen vor Territorium« würde der menschenrechtlichen Verpflichtung einer Friedenspolitik in humanitärer Tradition mehr entsprechen, als die der alten Kriegslogik entsprechende Souveränitätspolitik. Die außerordentlich hohe Zahl von Toten und Verwundeten auf beiden Seiten verlangt nach einem umgehenden Ende der Kampfhandlungen. Die auch von der Bundesregierung zugesagten weiteren Waffen- und Munitionslieferungen werden in absehbarer Zeit die Rückeroberung der verlorenen Gebiete nicht ermöglichen, das wird auch von der NATO anerkannt. Sie werden jedoch den Krieg verlängern und die Opferzahlen in unverhältnismäßigem Ausmaß erhöhen. Erst unlängst forderte die Generalversammlung der Vereinten Nationen »nachdrücklich die sofortige friedliche Beilegung des Konflikts zwischen der Russischen Föderation und der Ukraine durch politischen Dialog, Verhandlungen, Vermittlung und andere friedliche Mittel«.³ Wenn die USA nach neuesten Aussagen ihres Außenministers Blinken derzeit zu keiner Art Waffenstillstand oder Verhandlungen mit der russischen Seite bereit sind, so wäre es die Pflicht der deutschen Außenpolitik, entsprechend ihrer menschenrechtlichen Werteaußenpolitik auf die US-amerikanischen Kollegen einzuwirken, ihre Haltung zu ändern, statt ihr vorbehaltlos zu folgen.
5. In diesem Zusammenhang werfen auch die Rüstungsexporte und Waffenlieferungen der Bundesrepublik an Länder in Spannungsgebieten, oder in denen Krieg herrscht, Fragen nach der Vereinbarkeit mit einer an den Menschenrechten orientierten Außenpolitik auf. So heißt es in dem Bericht: »Bei Entscheidungen über die Ausfuhr von Rüstungsgütern spielt das Menschenrechtskriterium eine wichtige Rolle. (…) Die Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland spielt bei der Entscheidung zu Rüstungsexporten eine hervorragende Rolle.« Zudem fordern die »Politischen Grundsätze für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern« der Bundesregierung, dass Lieferungen nicht in Länder genehmigt werden, »die in bewaffnete Auseinandersetzungen verwickelt sind oder wo eine solche droht, in denen ein Ausbruch bewaffneter Auseinandersetzungen droht oder bestehende Spannungen und Konflikte durch den Export ausgelöst, aufrechterhalten oder verschärft würden«. Es ist aber bekannt, dass deutsche Waffen, die nach Saudi-Arabien und in die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) geliefert wurden – selbst Staaten mit bekannten Menschenrechtsproblemen – im Krieg im Jemen eingesetzt werden.⁴ Die Bundesregierung behauptet zwar, dass sie davon keine Kenntnis habe, will aber dennoch weiterhin Waffen in die VAE liefern. Trotz der beschlossenen Exportbeschränkungen für Rüstungsgüter nach Saudi-Arabien waren es 2022 so viele wie seit 2018 nicht mehr. Die Bundesregierung hat die Lieferung von Rüstungsgütern für 44,2 Millionen Euro genehmigt, in ein Land, in dem gerade die Frauenrechte im krassen Gegensatz zu den allgemeinen Menschenrechtsstandards stehen.
Nukleare Teilhabe
6. Das Festhalten an der sogenannten Nuklearen Teilhabe wirft ebenfalls erhebliche menschenrechtliche Probleme auf. Sie bildet die Grundlage für die Stationierung US-amerikanischer Atomraketen auf deutschem Boden und die Beteiligung der Bundeswehr im Fall eines eventuellen Einsatzes der Waffen. Bekanntlich ist jedoch der Einsatz von Atomwaffen und schon dessen Androhung sowohl nach humanitärem Völkerrecht als auch nach dem internationalen Menschenrecht auf Leben (Art. 6 UN-Zivilpakt) verboten. Dies haben sowohl das Gutachten des Internationalen Gerichtshofs vom 8. Juli 1996 als auch der Comment Nr. 36 des UN-Menschenrechtsausschusses vom 30. Oktober 2018⁵ unmissverständlich zum Ausdruck gebracht, hat aber bei der Bundesregierung bisher kein Umdenken gebracht.
7. Besonders kritikwürdig ist jedoch die Haltung der Bundesregierung gegenüber Staaten, die sich ganz offen schwerer Völkerrechtsverstöße schuldig machen. Seit 2016 interveniert die Türkei militärisch ohne völkerrechtliches Mandat des UN-Sicherheitsrats und ohne sich auf das Selbstverteidigungsrecht gemäß Art. 51 UN-Charta berufen zu können im Norden Syriens (Operation »Schutzschild Euphrat«). Seit 2018 hält sie nach ihrer Militäroffensive (Operation »Olivenzweig«) die syrische Provinz Afrin besetzt, vertreibt dort die kurdische Bevölkerung und siedelt arabische Menschen, die vor dem Krieg in Syrien in die Türkei geflohen waren, völkerrechtswidrig in Afrin an. Diese bis heute andauernden militärischen Übergriffe der Türkei auf ihren Nachbarn Syrien stellen nicht nur einen schweren Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar, sondern sind auch von gravierenden Verletzungen der Menschenrechte begleitet. Die Bundesregierung ruft die türkische Regierung zur Zurückhaltung und Verhältnismäßigkeit ihrer Maßnahmen auf, liefert jedoch weiterhin Waffen in die Türkei und setzt ihre normalen diplomatischen und Handelsbeziehungen fort.
8. Ebenso ungestört und unberührt von der Jahrzehnte andauernden völkerrechtswidrigen Besatzungspolitik in Palästina verlaufen die diplomatischen, wirtschaftlichen und militärischen Beziehungen mit Israel. Die schon seit 2007 dem UN-Menschenrechtsausschuss vorliegenden Berichte über schwere Menschenrechtsverbrechen einschließlich des Verbrechens der Apartheid in den besetzten Gebieten⁶ sind in den letzten Jahren durch umfangreiche Berichte von Human Rights Watch, Amnesty International und B’Tselem bestätigt und um erschreckende Beispiele ergänzt worden. 2009 erklärte der erste Sonderberichterstatter des Menschenrechtsrats, John Dugard, als er auf Druck Israels und der USA von seinem Posten abgelöst wurde: »Ich bin Südafrikaner, der in der Apartheid gelebt hat. Ich zögere nicht zu sagen, dass Israels Verbrechen unendlich viel schlimmer sind als die Verbrechen, die Südafrika mit seinem Apartheidregime begangen hat.«⁷ Die Bundesregierung hat auch nach diesen unbestreitbaren und erschütternden Dokumenten nichts unternommen, um die israelische Regierung zum Rückzug aus den besetzten Gebieten und Beendigung ihrer Apartheidpolitik zu bewegen. Ihre finanziellen Leistungen an die palästinensischen Institutionen in Ramallah und Gaza vermögen ihre Untätigkeit und offensichtliche Gleichgültigkeit gegenüber diesem nun schon Jahrzehnte dauernden menschenrechtlich inakzeptablen Zustand nicht zu kompensieren. Auch eine Berufung auf die Schuld der eigenen Geschichte vermag nicht die Unterstützung einer derart langen zutiefst menschenrechtswidrigen Politik zu exkulpieren.
Ökonomische Interessen
9. Diese widersprüchliche Politik der Doppelmoral zeigt sich jetzt auch in der veränderten Haltung der Bundesregierung zur Westsahara-Frage. Während die vorherige Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel die Besatzung der Westsahara durch Marokko nicht anerkannte und stets auf die UN-Resolutionen verwiesen hatte, um eine »gerechte, praktikable, dauerhafte und für alle Seiten akzeptable Lösung des Konflikts« unter »Achtung des humanitären Völkerrechts und der Menschenrechte« zu erreichen, ist Außenministerin Baerbock von dieser Position abgerückt, und bezieht sich auf den von der UNO abgelehnten Autonomieplan des marokkanischen Königshauses. Dieser Plan zielt darauf ab, die Besatzung zu legalisieren und die Westsahara als einen Teil Marokkos auszuweisen. Dass dabei eindeutig ökonomische Interessen infolge der neuen Energiepolitik und der Wunsch, von Marokko in der Zukunft günstig Energie beziehen zu können, im Vordergrund stehen, wird auch nicht bestritten. Währenddessen weisen Internationale Menschenrechtsorganisationen wie Human Rights Watch darauf hin, dass die marokkanischen Behörden in der Westsahara weiterhin Aktivisten verfolgen, die sich für die Selbstbestimmung der Sahraoui einsetzen. Die Organisation beklagt auch, dass »Folter« und ungerechte Verfahren mit langen Haftstrafen auf Basis von »gefälschten Geständnissen« zu den Methoden der Besatzung gehören.⁸ (…)
10. Der Bericht legt berechtigten Wert auf die Bedeutung rechtsstaatlicher Institutionen für die Ausübung und den Schutz der Menschenrechte. Dafür sind ein funktionierendes Justizsystem und die Bekämpfung der Straflosigkeit zentrale Voraussetzungen. Im Bericht heißt es: »Ein Fokus der Bundesregierung liegt dabei auch auf der Bekämpfung der Straflosigkeit für Völkerrechtsverbrechen, wie etwa Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschheit oder Völkermord. Sie setzt sich sowohl für die internationale gerichtliche Aufarbeitung dieser Verbrechen ein. Das beinhaltet auch eine Stärkung der internationalen Gerichtsbarkeit sowie den Einsatz für die Umsetzung ihrer Urteile. Wenn solche Verbrechen konsequent geahndet werden, wird die Schwelle für potentielle Täter höher«.
Dieser Ansatz verdient vorbehaltlose Zustimmung. Wenn derzeit geplant ist, ein Sondertribunal für die Anklage gegen den russischen Präsidenten Putin wegen des Verbrechens der Aggression (Art. 8 bis Römisches Statut) zu errichten, so wäre das aber nur dann im Sinn der Menschenrechtskonzeption der Bundesregierung uneingeschränkt zu begrüßen, wenn das Tribunal gleichzeitig für entsprechende Tatvorwürfe gegenüber den Regierungschefs der USA, Großbritanniens, Israels oder der Bundesrepublik wegen der Kriege gegen Jugoslawien, Irak oder Gaza zuständig wäre. Denn alle diese möglichen Kriegsverbrechen unterliegen keiner Verjährung (Art. 29 Römisches Statut). Da eine Erweiterung des Tribunals aber offensichtlich nicht geplant ist, fehlt ihm die notwendige politische Legitimation. Es kann zudem nicht zur geforderten Stärkung der internationalen Strafgerichtsbarkeit durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag beitragen. Im Gegenteil, es schwächt durch die Einrichtung einer Paralleljustiz die Rechtsprechungskompetenz des IStGH, wie es auch sein Chefankläger Karim Kahn beklagt hat. Der IStGH kann keine Ermittlungen ausführen, die sich auf das Verbrechen der Aggression (Angriffskrieg) gem. Art. 8 bis Römisches Statut erstrecken. Denn nach Art. 15 bis Abs. 5 Römisches Statut kann der IStGH keine Strafverfolgungsmaßnahmen einleiten, wenn der Staat, durch dessen Angehörige oder auf dessen Territorium die Verbrechen begangen wurden, nicht Vertragspartei des Statuts ist. Da weder die Ukraine noch Russland dem Statut beigetreten sind, könnte nur der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen mit einem Beschluss nach Art. 42 UN-Charta den Strafgerichtshof beauftragen. Das wird auf jeden Fall am Veto Russlands scheitern.
Darüber hinaus ist auf folgende Besonderheit hinzuweisen. Der Internationale Strafgerichtshof war im Jahr 2000 gerade mit der Intention gegründet worden, dem Internationalen Strafrecht eine allgemeine und international unbegrenzte Gültigkeit und Wirksamkeit zu verschaffen und damit die nur begrenzt tätig werdenden Sondertribunale für die Zukunft zu ersetzen. Es waren aber gerade die Staaten, die heute ein Sondertribunal fordern, die 2010 in Kampala den Ermittlungsrahmen für das Verbrechen der Aggression durch Art. 15 bis Abs. 5 Römisches Statut selbst für Vertragsstaaten so eingegrenzt haben, dass ihre Staatsspitzen von jeglicher strafrechtlichen Verantwortung ausgenommen werden. Anstatt die Begrenzung auf Vertragsstaaten und solche Staaten, die auch den »Kampala-Zusatz« ratifiziert haben, aufzuheben und dem Römischen Statut ohne Einschränkung und Vorbehalt Geltung zu verschaffen, baut man sich ein Tribunal »à la carte«, das man nach Erfüllung seines politischen Zieles wieder auflöst.
Die einzige überzeugende Lösung wäre der Beitritt aller Staaten zum Römischen Statut ohne Einschränkungen und Immunitätsvorbehalte, für den sich die Bundesregierung einsetzen müsste. Doch von diesen Überlegungen ist im Bericht der Bundesregierung nichts zu finden.
Wertlose »Werte«
11. Zum Schluss fällt auf, dass von den 32 aufgeführten Ländern, in denen die Bundesregierung Menschenrechtsprobleme identifiziert, 30 in Afrika und Asien liegen sowie zwei Staaten, Kuba und Venezuela, in dem vornehmlich christlichen Mittel- und Lateinamerika. Demgegenüber wurde kein Staat in Europa und wurden auch nicht die USA mit ihrer kubanischen Enklave Guantanamo der »Auswahl von Staaten mit kritischer Menschenrechtslage« für wert befunden. Es drängt sich hier doch die Frage auf, ob in dieser Teilung nicht die alte koloniale Weltsicht fortwirkt.
Die kurze Analyse hat gezeigt, dass es zwischen dem in der Öffentlichkeit vertretenen Menschenrechtsanspruch und der praktischen Politik eine große Kluft besteht. Die offensichtliche Diskrepanz zwischen der wortreichen Preisung einer »werteorientierten« Außenpolitik und der tatsächlich interessengeleiteten Praxis legt es nahe, auf den unscharfen und beliebigen Begriff der »Werte« zu verzichten, und die Außenpolitik strikt an dem einzigen weltweit akzeptierten Wert, dem Völkerrecht, wie es in der UNO-Charta und den internationalen Verträgen kodifiziert ist, auszurichten.
Anmerkungen:
1 https://kurzelinks.de/jazairy
2 https://gandhifoundation.wordpress.com/2003/01/30/2003-peace-award-denis-halliday-2/
3 UNGV v. 18. 3. 2023, A/Res/ES-11/1.
4 Vgl. DW-Recherche, Saudische Koalition setzt deutsche Waffen im Jemen ein, 26.2.2019
5 https://kurzelinks.de/comment36
6 Vgl. Norman Paech: Menschenrechte. Geschichte und Gegenwart, Köln 2019, S. 145–159
7 Vgl. Dugard, John: International Law and the Occupied Palestinian Territories. In: European Journal of International Law 24 (2013), No. 3, S. 867–913
8 https://kurzelinks.de/Western-Sahara
Quelle: junge welt v.02.05.2023/ Umit Bektas/REUTERS
Angesichts der handfesten und sehr konkreten außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik erweist sich die Parole von der feministischen Außenpolitik als nachgerade zynisch. Außenministerin Annalena Baerbock mit ihrem türkischen Amtskollegen Mevlut Cavusoglu (Istanbul, 29.7.2022)
Bolivien erhält Auftrag von regionaler Menschenrechtsorganisation
Das Team aus fünf Kommissaren und 20 weiteren Vertretern der IACHR beendete die Mission am Freitag mit Besuchen in den Departements La Paz, Sucre, Cochabamba und Santa Cruz.
Der Präsident Boliviens, Luis Arce, empfing am Freitag in der Casa Grande del Pueblo eine Mission der Interamerikanischen Menschenrechtskommission (IACHR), in der er das "festeste und unerschütterlichste Engagement für die Erfüllung und Garantie der Menschenrechte" seiner Regierung in dieser Angelegenheit bekräftigte.
Das Team von fünf Kommissaren und 20 weiteren Vertretern der IACHR schloss am Freitag die Mission ab, die am Montag mit Besuchen in den Departements La Paz, Sucre, Cochabamba und Santa Cruz begann, um die Menschenrechtslage in dem Andenstaat "vor Ort" zu beobachten.
Lokalen Medien zufolge lag der Schwerpunkt bei den Treffen und Besichtigungen auf demokratischen Institutionen, dem Zugang zur Justiz und rechtlichen Garantien. Zugang zu wirtschaftlichen, sozialen, kulturellen und ökologischen Rechten und Diskriminierung von Bevölkerungsgruppen, die sich in historischen Situationen der Verwundbarkeit befinden.
Er identifizierte jedoch auch "große strukturelle Herausforderungen, die heute im Land bestehen, sowie das Wiederaufleben besorgniserregender Situationen in Bezug auf Partisanengewalt, die das Ergebnis einer extremen politischen Polarisierung sind, die zu einem Bruch in der Gesellschaft geführt hat und dringend überwunden werden muss".
Die IACHR-Mission bewertete die Anerkennung der Rechte indigener Völker, den Kampf gegen Diskriminierung und Rassismus sowie die Ergebnisse der Sozial- und Wirtschaftspolitik, wie z.B. eine niedrige und kontrollierte Inflation, in einem ungünstigen Kontext.
Als Höhepunkt des Besuchs rief die Mission die politischen und sozialen Führer Boliviens dazu auf, zusammenzuarbeiten, um diese Situation umzukehren.
Quelle: teleSUR v.01.04.2023
Abgeschrieben
Junge Welt v. 31.03.2023
Sevim Dagdelen, Obfrau der Fraktion von Die Linke im Auswärtigen Ausschuss und Sprecherin für Internationale Politik und Abrüstung, erklärte am Donnerstag zur Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage ihrerseits:
Es ist skandalös, dass die Bundesregierung sich feige wegduckt und keinen Exportstopp von Dual-Use- und Rüstungsgütern nach Peru plant ungeachtet der massiven Menschenrechtsverletzungen bei der Niederschlagung der Proteste gegen die »Übergangsregierung« von Dina Boluarte. Medienberichten zufolge sind seit dem 7. Dezember 2022 in Peru deutsche Waffen von Heckler & Koch zum Einsatz gekommen und mindestens 60 Menschen von Sicherheitskräften getötet worden – laut Amnesty International durch Schüsse in die Brust, den Oberkörper oder den Kopf.
Wenn bei der »Entscheidungsfindung« bei der Genehmigung von Rüstungsexporten laut Ampel-Regierung die »Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland eine hervorgehobene Rolle« spielen, ist im Fall Perus ein sofortiger Exportstopp sowohl bei Genehmigungen als auch bei der tatsächlichen Ausfuhr für Güter, die zur internen Repression und Überwachung oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen verwendet werden können, darunter Güter gemäß Anhang III der Anti-Folter-Verordnung wie Wasserwerfer, Reizgas, Pfefferspray, Tränengasgranaten, Elektroschocktechnologien und Fußfesseln, zwingend.
Abgeschrieben
Junge Welt v. 31.03.2023
Sevim Dagdelen, Obfrau der Fraktion von Die Linke im Auswärtigen Ausschuss und Sprecherin für Internationale Politik und Abrüstung, erklärte am Donnerstag zur Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage ihrerseits:
Es ist skandalös, dass die Bundesregierung sich feige wegduckt und keinen Exportstopp von Dual-Use- und Rüstungsgütern nach Peru plant ungeachtet der massiven Menschenrechtsverletzungen bei der Niederschlagung der Proteste gegen die »Übergangsregierung« von Dina Boluarte. Medienberichten zufolge sind seit dem 7. Dezember 2022 in Peru deutsche Waffen von Heckler & Koch zum Einsatz gekommen und mindestens 60 Menschen von Sicherheitskräften getötet worden – laut Amnesty International durch Schüsse in die Brust, den Oberkörper oder den Kopf.
Wenn bei der »Entscheidungsfindung« bei der Genehmigung von Rüstungsexporten laut Ampel-Regierung die »Beachtung der Menschenrechte im Empfängerland eine hervorgehobene Rolle« spielen, ist im Fall Perus ein sofortiger Exportstopp sowohl bei Genehmigungen als auch bei der tatsächlichen Ausfuhr für Güter, die zur internen Repression und Überwachung oder zu sonstigen fortdauernden und systematischen Menschenrechtsverletzungen verwendet werden können, darunter Güter gemäß Anhang III der Anti-Folter-Verordnung wie Wasserwerfer, Reizgas, Pfefferspray, Tränengasgranaten, Elektroschocktechnologien und Fußfesseln, zwingend.
Kolumbianischer Staat verantwortlich für die "Ausrottung" der politischen Partei UP
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte hat festgestellt, dass der kolumbianische Staat an einer intensiven Gewaltkampagne beteiligt war, bei der in den 1980er und 90er Jahren Tausende von Mitgliedern der linken Partei Patriotische Union (UP) getötet wurden
Mehr als zwei Jahrzehnte lang beteiligte sich der kolumbianische Staat an intensiven Menschenrechtsverletzungen gegen die linke Partei Patriotische Union (UP) in einer Kampagne der "Vernichtung", wie ein wegweisendes Urteil des Interamerikanischen Gerichtshofs für Menschenrechte erklärt hat. Ab 1984 wurden mehr als 6.000 UP-Aktivisten, Mitglieder und Unterstützer ins Visier genommen. Das Urteil bekräftigt die Rolle des Staates bei Gräueltaten gegen die Zivilgesellschaft während des bewaffneten Konflikts.
Die UP wurde 1985 im Rahmen eines Friedensabkommens zwischen der damaligen Regierung von Belisario Betancur und den Revolutionären Streitkräften Kolumbiens (FARC) gegründet. Es brachte ehemalige Guerillas und andere linke Gruppen zusammen, die politische Veränderungen mit Wahlmitteln anstrebten, eine große Abkehr vom bewaffneten Kampf, den die FARC zuvor geführt hatte.
Nachdem die UP jedoch auf regionaler und lokaler Ebene Wahlgewinne erzielt hatte, arbeiteten staatliche Kräfte mit Paramilitärs, Politikern und Wirtschaftsgruppen zusammen, um brutale Gewalt gegen die Partei auszuüben, in einer Kampagne, die in Kolumbien gemeinhin als "politischer Völkermord" bezeichnet wird. Das Ziel war einfach: zu verhindern, dass die UP zu einer glaubwürdigen Alternative zu seit langem etablierten Machtstrukturen wird und, wie das Urteil feststellt, "dem Aufstieg der UP in der politischen Arena entgegenzuwirken".
Der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ist ein autonomes Tribunal, das mit der Durchführung von Ermittlungen zu Menschenrechtsverletzungen in ganz Amerika beauftragt ist. Einige dieser Untersuchungen können nicht ohne weiteres in den Ländern durchgeführt werden, in denen sie angeblich stattgefunden haben.
Das Urteil besagt, dass zu den "systematischen Gewalttaten", unter denen die Opfer leiden und die landesweit verübt werden, das Verschwindenlassen, Massaker, außergerichtliche Hinrichtungen und Morde, Drohungen, körperliche Angriffe, Stigmatisierung, rechtliche Verfolgungen, Folter, Vertreibung und andere gehören. Dies wurde durch Untersuchungen erleichtert, die, wenn sie überhaupt durchgeführt wurden, beklagenswert ineffektiv waren und durch "ein hohes Maß an Straflosigkeit gekennzeichnet waren, das als Formen der Toleranz seitens der Behörden wirkte". In Übereinstimmung mit der aktiven Absprache der Behörden bei der Gewalt ermöglichte das Fehlen von Konsequenzen, dass die Morde und andere Misshandlungen ungehindert fortgesetzt werden konnten.
Darüber hinaus befand das Gericht den Staat für die Verletzung der Rechte der Opfer auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit verantwortlich. Dies äußerte sich in der anhaltenden Stigmatisierung einer Partei, die als "innerer Feind" dargestellt wurde, ein Diskurs, der die Verfolgung der UP legitimierte. Hochrangige Staatsbeamte waren am prominentesten bei der Förderung des Klimas der Aggression durch den politischen Diskurs, der, in den Worten des Gerichts, dazu führte, dass "die Situation der Verwundbarkeit ... und ein Motiv zu erzeugen, um Angriffe gegen sie zu fördern." Dies beeinträchtigte nicht nur ihre körperliche Sicherheit, sondern hatte auch schwerwiegende psychologische Auswirkungen auf viele UP-Mitglieder und -Unterstützer.
Die Rechte der Opfer werden bis heute verletzt, da der Staat es versäumt hat, die Gewalt ordnungsgemäß zu untersuchen, die Verantwortlichen strafrechtlich zu verfolgen oder das Recht der Opfer auf Wahrheit zu wahren.
In seinem Urteil erließ der Gerichtshof mehrere Formen staatlicher Wiedergutmachung:
Dies ist nicht das erste Gerichtsurteil zu Gewalt gegen die UP. Im März letzten Jahres enthüllte die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP), das im Friedensabkommen von 2016 geschaffene Übergangsgericht, dass 5.733 UP-Mitglieder von 1984 bis 2018 ermordet wurden oder verschwunden sind. Insgesamt dokumentierte das GEP fast 8.300 Personen, die wegen ihrer Zugehörigkeit zur UP ins Visier genommen worden waren. Der Verrat des Staates am Friedensabkommen von 1985 führte in den 1990er und 2000er Jahren zur Eskalation des bewaffneten Konflikts auf seinen Höhepunkt. Der Staat und seine paramilitärischen Stellvertreter griffen routinemäßig Gewerkschafter, Bauern, Studenten, indigene und afrikanisch-kolumbianische Gemeinschaften und andere an, die fälschlicherweise als "Subversive" bezeichnet wurden. Als Reaktion darauf kehrten viele ehemalige Kämpfer, die die FARC in Richtung UP verlassen hatten, in die Reihen der Guerilla zurück.
Im Januar 2021 berichtete der Journalist Alberto Donadio, dass der kolumbianische Präsident Virgilio Barco Vargas, der Belisario Betancur im Jahr nach der Gründung der UP nachfolgte, die Vernichtungskampagne gegen die Partei genehmigte. Die Architekten der Kampagne konnten sie als Erfolg betrachten, da die UP so geschwächt war, dass ihr 2002 ihr Status als politische Partei entzogen wurde. Dies wurde 2013 umgekehrt, als die UP in den Wahlkreis zurückkehrte. Heute ist die UP unter der Leitung von Senatorin Aida Avella, die 1996 nach einem Attentat ins Exil gezwungen wurde, Mitglied der Koalition des Historischen Pakts von Präsident Gustavo Petro, die letztes Jahr als erste linke Regierung in der kolumbianischen Geschichte gewählt wurde.
Nick MacWilliam ist Mitherausgeber von Alborada.
Quelle: Progressiv international; März 2023
Justiz soll möglichen Genozid an Yanomami untersuchen
(31. Januar 2023, La Diaria) Luís Roberto Barroso, Richter am Obersten Bundesgericht Brasiliens, hat die Generalstaatsanwaltschaft des Landes angewiesen, zu untersuchen, ob Staatsorgane während der Regierung des ehemaligen Präsidenten Jair Bolsonaro einen Völkermord an der indigenen Gemeinschaft der Yanomami begangen haben. Da das Ermittlungsverfahren noch läuft, wurden bisher keine Namen von verdächtigten Personen bekannt gegeben.
Die Untersuchung soll ebenso feststellen, ob in diesem Zusammenhang auch Gerichtsurteile missachtet, Geheimnisse verletzt und Umweltverbrechen begangen wurden. Laut Barroso könnte ein Urteil des Obersten Bundesgerichts missachtet worden sein. In diesem war die Regierung verpflichtet worden, dafür zu sorgen, dass etwa 20.000 illegale Bergleute das Schutzgebiet der Yanomami verlassen. Damit sollte verhindert werden, dass Bergleute die dort lebende Bevölkerung mit Covid-19 infizieren, berichtet die spanische Nachrichtenagentur Efe. Darüber hinaus besteht der Verdacht, dass die Weitergabe von Informationen über geplante Maßnahmen gegen den illegalen Bergbau ermöglicht hätte, dass Bergleute die Kontrollen umgehen konnten.
Grundlage für die Entscheidung des Richters waren Informationen, die dem Gericht von der brasilianischen Regierung und der indigenen Organisation Articulação dos Povos Indígenas do Brasil (APIB) vorgelegt wurden. Wie in den letzten Tagen berichtet, leiden tausende Yanomami an Unterernährung, Wasserverschmutzung und verschiedenen Krankheiten, die in den letzten vier Jahren den Tod von 570 Kindern verursacht haben. Die Krise veranlasste die Regierung, für das etwa zehn Millionen Hektar große Gebiet der Yanomami einen „Gesundheitsnotstand“ auszurufen. Etwa 27.000 Menschen leben hier.
Das Magazin Carta Capital berichtet, dass Barroso der Regierung von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva eine Frist von 30 Tagen eingeräumt hat, um eine Bewertung der Lage in dem indigenen Gebiet sowie eine Strategie und einen Zeitplan für die Bekämpfung des illegalen Bergbaus vorzulegen. Dieser, insbesondere der Goldbergbau, ist für die Quecksilberverschmutzung der Flüsse in der Region verantwortlich. Für Barroso zeigen die vorgelegten Daten ein „sehr ernstes und besorgniserregendes Bild, das darauf hindeutet, dass hier Gesetze missachtet und zahlreiche illegale Handlungen begangen wurden.“
Verteidigungsminister José Mucio kündigte einen Besuch mit Befehlshabern der Streitkräfte im Bundesstaat Roraima an, um Einsatzkräfte zu unterstützen, die von der Regierung mit der Bekämpfung des illegalen Bergbaus beauftragt worden waren. Er fügte hinzu, dass verschiedene Einheiten spezielle Aufgaben übernehmen werden: Die Armee wird Kriminelle identifizieren, die Marine wird die Flüsse kontrollieren und die Luftwaffe wird den Luftraum überwachen. „Wir brauchen ein gemeinsames Vorgehen aller Institutionen, damit wir das Problem lösen können. Es ist eine Tragödie. Bevor wir [die Verantwortlichen] finden, müssen wir diese Bevölkerung retten“, sagte Barroso dem brasilianischen Fernsehsender BandNews TV. Ende Januar beschlagnahmten Militär und Polizei 24 Flugzeuge von Goldsuchern. Laut Efe sagte die Polizei, dass weitere Flugzeuge während der Operationen zerstört wurden.
Quelle: Nachrichtenpool Lateinamerika; Ausgabe Februar 2023/Das Militär hat in Roraima ein medizinisches Versorgungszentrum für die Bewohner:innen der Region errichtet. Foto: Fernando Frazão/Agência Brasil via Fotos Públicas.
El Salvadors Umweltführer forderten Freiheit
Menschenrechtsorganisationen sagen, dass eines der wahren Ziele der Verhaftungen darin besteht, "den Widerstand der Gemeinschaft zu schwächen".
Verschiedene Menschenrechtsorganisationen und salvadorianische soziale Bewegungen forderten am Donnerstag die sofortige Freilassung von Gemeindeführern aus Santa Marta im Norden des Landes und Vertretern der Association of Social Economic Development (ADES), die von einem örtlichen Gericht wegen angeblicher Verbrechen von vor 40 Jahren ins Gefängnis geschickt worden waren. In einer Erklärung, die gestern veröffentlicht wurde und deren wesentliche Elemente auf einer Pressekonferenz am Donnerstag aufgegriffen wurden, forderten die Organisationen das Gericht erster Instanz von Sensuntepeque (Norden des Landes) auf, "die vorläufige Inhaftierung rückgängig zu machen und das Gerichtsverfahren mit den Inhaftierten in Freiheit fortzusetzen, wie von ihrem Verteidiger gefordert".
In diesem Sinne argumentierten sie, dass keine Fluchtgefahr bestehe, da Gemeindeleiter und Umweltschützer "total in der Gemeinschaft verwurzelt sind und wichtige soziale Arbeit leisten", so dass sie diesen Ansatz der Staatsanwaltschaft als "unbegründet" bezeichneten. Ebenso wiesen sie darauf hin, dass das fortgeschrittene Alter einiger Häftlinge und das Leiden an chronischen Krankheiten "die Inhaftierung zu einer Bedrohung für ihr Leben macht", da sie unter anderem Gesundheitskontrollen und Medikamente behindert.
Gleichzeitig betonten sie, die Inhaftierung sei eine "Willkür und Ungerechtigkeit" sowie "diskriminierend und stellt einen eklatanten Verstoß gegen das Gleichheitsprinzip dar, denn in allen anderen Gerichtsverfahren zu während des Krieges begangenen Verbrechen werden die Angeklagten in Freiheit verfolgt".
Dementsprechend bekräftigten sie, dass die wahren Ziele der Verhaftungen darin bestehen, "den Widerstand der Gemeinschaft zu schwächen, um gesetzlich verbotene Bergbauprojekte zu reaktivieren, in der Auflösung des Friedensabkommens gipfeln und die Verfolgung sozialer Organisationen zu vertiefen".
Zu den Unterzeichnern der Beschwerde gehören die Zentralamerikanische Allianz gegen Bergbau, die Allianz gegen die Privatisierung des Wassers, die Feministische Versammlung, der Block des Widerstands und der Volksrebellion, das Nationale Gesundheitsforum, die Antifaschistische Jugend, der Tisch für Ernährungssouveränität und die Bürgersicherheitsplattform.
Die Klage kam, nachdem das Gericht erster Instanz von Sensuntepeque am Mittwoch den Antrag abgelehnt hatte, die vorläufige Inhaftierung der Führer von Santa Marta und ADES rückgängig zu machen, was Proteste vor dem Gericht auslöste, um weiterhin Gerechtigkeit zu fordern.
Quelle: teleSUR v.09.02.2023
Aus: Ausgabe vom 31.01.2023, Seite 6 / Ausland
MENSCHENRECHTE USA UND EU
Verstoß gegen Menschenrechte
UNO kritisiert Sanktionen der EU und USA gegen Venezuela
Von Volker Hermsdorf
Die von den USA und der EU gegen Venezuela verhängten Sanktionen verstoßen nach Einschätzung der UNO gegen die Menschenrechte. Das bestätigte der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte, Volker Türk, am Sonnabend bei einer Pressekonferenz auf dem Internationalen Flughafen in Caracas. Zum Abschluss eines dreitägigen Besuchs des südamerikanischen Landes forderte Türk, »alle Maßnahmen aufzuheben, die sich nachteilig auf Venezuela und dessen Bevölkerung« auswirken.
Es sei für ihn offensichtlich, »dass die seit 2017 gegen Venezuela verhängten sektoralen Sanktionen die Wirtschaftskrise verschärft und die Menschenrechte beeinträchtigt haben«, fasste der aus Österreich stammende Jurist seine Eindrücke zusammen. Die Vorwürfe gegen die USA und die EU erhob der UN-Vertreter, nachdem er sich über die Folgen der einseitigen Strafmaßnahmen für die venezolanische Bevölkerung informiert hatte. Er sei in den vergangenen zwei Tagen mit mehr als 125 Mitgliedern der Zivilgesellschaft, mit Menschenrechtsverteidigern, Vertretern der Kirche, Oppositionspolitikern und hochrangigen Regierungsmitgliedern zusammengetroffen, sagte Türk vor seiner Abreise.
Neben der Kritik an den westlichen Sanktionen bot der Menschenrechtsbeauftragte die Unterstützung der Vereinten Nationen beim Dialog zwischen Regierung und Opposition an, der in Mexiko stattfindet. Er erklärte seine Bereitschaft, »aufgrund der Erfahrung im Bereich der Menschenrechte eine Brücke zwischen der Opposition und der venezolanischen Regierung« zu schlagen und forderte beide Seiten auf, »einander in einem sinnvollen Dialog zuzuhören, um eine gemeinsame Vision für die Zukunft zu finden«. Während seines Aufenthalts war Türk unter anderem mit Präsident Nicolás Maduro und Mitgliedern der gesprächsbereiten Opposition zusammengetroffen.
Zeitgleich mit dem Besuch des UN-Vertreters kündigte die Nationalversammlung am Donnerstag an, einen Ausschuss einzurichten, der unter anderem die Unterstützung einiger Oppositioneller für Aktivitäten der USA zum Sturz der gewählten Regierung untersuchen soll. Anlass ist die kürzlich erfolgte Veröffentlichung des Buches »Never Give an Inch« (Niemals einen Zoll nachgeben) von Michael Pompeo, dem ehemaligen US-Außenminister (2018–2021) und CIA-Direktor (2017–2018). »Wir konnten nicht dulden, dass ein Land, das nur 1.400 Meilen von Florida entfernt ist, Russland, China, Kuba und dem Iran den roten Teppich ausrollt«, schreibt Pompeo. Washington habe Sanktionen verhängt, um das Land »von einem Diktator zu befreien«. Ziel war es, so Pompeo, der venezolanischen Regierung »die Möglichkeit zu nehmen, Devisen zu erwirtschaften, und sie daran zu hindern«, Öl und Gold zu exportieren, was »ihre Haupteinnahmequellen« seien. Vor den Wahlen im Jahr 2018 »sahen wir die Chance, dem Regime mit Hilfe eines relativ unbekannten 35jährigen Oppositionspolitikers namens Juan Guaidó, das Leben schwerzumachen«. In seinem Buch gibt Pompeo zu, dass Washington die extremistische Opposition um Juan Guaidó mit einer Milliarde US-Dollar finanzierte. Der venezolanische Außenminister Yván Gil erklärte dazu am Freitag im Kurznachrichtendienst Twitter: »Während das Imperium den Tod in unserem Land plante, wurde es hier von Gruppen unterstützt, die das Heimatland ausverkauften (…) heute gestehen die Aggressoren.«
Quelle: junge Welt v.31.01.2023/ Juan Carlos Hernandez/ZUMA Wire/imago
Nachbarschaftshilfe zur Versorgung der Bedürftigsten im Stadtbezirk Miguel Peña von Valencia (17.10.2020)
Jedes fünfte Kind arm? Jedes vierte? Egal, Panzer sind wichtiger
29 Jan. 2023 12:49 Uhr
Jedes Jahr gibt es neue Zahlen zur Armut, die den alten gleichen, und immer wieder gibt es Berichte der Bertelsmann-Stiftung dazu. Aber es ändert sich nichts, zumindest nicht zum Guten. Wenn es nächstes Jahr noch einen solchen Bericht geben sollte, sind noch mehr Kinder arm.
Von Dagmar Henn
Die Bertelsmann-Stiftung ist dieses Jahr etwas zu früh dran, um das Thema "Kinderarmut" in die Presse zu bringen. Das Gehege für Sozialthemen in der deutschen Medienlandschaft erstreckt sich nämlich zweimal im Jahr über jeweils vier Wochen – vor Ostern und vor Weihnachten. Den Rest des Jahres wird eigentlich konsequent so getan, als wäre da nichts. Und, wenn man strikt nach Nachrichtenqualität geht: Dass über 40 Prozent der Kinder von Alleinerziehenden (samt der Mütter) in Armut leben, ist nichts Neues. Die Einführung von Hartz IV führte zu einem Sprung nach oben; aber schon davor lag die als "Armutsrisiko" beschönigte Armut Alleinerziehender bei 35,4 Prozent. Und auch das ist konstant: Über die Hälfte aller in Armut lebender Kinder sind Kinder Alleinerziehender. Wir reden also von einem Zustand, der Gesellschaft und Politik seit langem bekannt ist, an dem sich aber nichts zum Besseren ändert.
Gleiches gilt für die regionale Verteilung. Es sind die ehemaligen Industriestandorte, an denen die Armut besonders groß ist; in Deutschland nicht anders als in Großbritannien. Im Ruhrgebiet führt Gelsenkirchen, die einstige Zechenhochburg, mit 41,7 Prozent, gefolgt von Essen, Dortmund, Hagen, Herne und Duisburg mit jeweils knapp über 30 Prozent Kindern und Jugendlichen, die von Hartz IV leben müssen. Auch Bremen und Bremerhaven liegen in dieser Größenordnung. Und so ist es ebenfalls seit Jahren, seit Jahrzehnten.
Die Begriffswahl "Kinderarmut" entstand übrigens in den 2000ern nach der Einführung von Hartz IV, als die erste Überprüfung des Regelsatzes anhand einer neuen Einkommens- und Verbrauchsstichprobe stattfand. Da stellte sich nämlich heraus, dass der Regelsatz, also die monatlich zu zahlende Leistung, deutlich erhöht werden müsste, wenn man, wie es das Gesetz ursprünglich vorsah, den Verbrauch der unteren 20 Prozent der Bevölkerung zum Maßstab nähme. Um das zu umgehen, wurde schwupps der Maßstab auf die untersten 15 Prozent reduziert, und zusätzlich wurden reihenweise Ausgaben für unnötig erklärt und damit gestrichen, wie Alkohol, Tabak, Wirtshausbesuche etc. Gestützt wurde das durch eine entsprechende publizistische Kampagne, die der Bevölkerung einreden sollte, Eltern, die Hartz IV bezögen, würden zusätzliches Geld ohnehin nur versaufen.
Die nächste Runde Verunglimpfung gab es dann, als bekannt wurde, dass sich arme Kinder keine Musikschule und keine Sportvereine leisten können, und dann die später als Flintenuschi bekannt gewordene, inzwischen als Präsidentin der EU-Kommission amtierende Ursula von der Leyen ein bürokratisches Monstrum namens Bildungs- und Teilhabepaket gebar, erneut mit der Begründung, die Eltern würden zusätzliches Geld ohnehin nur versaufen (wobei man sich angesichts der Karriere von Flintenuschi durchaus fragen kann, ob das nicht selbst dann bei den Eltern noch besser aufgehoben wäre als bei drei Dutzend Beratergesellschaften).
Nachdem arme Eltern derart als grundsätzlich unverantwortlich gebrandmarkt waren, was natürlich nur ging, indem man die Alleinerziehenden, die die weit überwiegende Mehrheit dieser armen Eltern darstellen, aus der Wahrnehmung verschwinden ließ, weil "versaufen" und alleinerziehend doch keine so überzeugende Kombination sind, und damit endgültig feststand, dass arme Eltern arm sind, weil sie es nicht besser verdient haben, ermöglicht der Begriff "Kinderarmut" zumindest, noch gelegentlich über diese Armut zu sprechen.
Die Bertelsmann-Stiftung folgt diesem Muster, an dessen Etablierung sie nicht unschuldig war, auch brav.
"Kinder- und Jugendarmut ist in der Regel immer auch Familienarmut und muss daher im Zusammenhang mit der Situation der Familie betrachtet werden. Kinder und Jugendliche können nichts dafür, wenn sie in armen Verhältnissen aufwachsen. Sie trifft keine Schuld."
Subtil, aber bösartig. Nur die Kinder und Jugendlichen trifft keine Schuld. Den Rest der Familie, überwiegend die Mütter, dann eben doch, oder? Die Väter spielen übrigens gar keine Rolle, und die Gesellschaft erst recht nicht. Dabei weist schon die regionale Verteilung darauf hin, dass es der ökonomische Zustand der Region ist, der die entscheidende Rolle spielt. Auch wenn, das muss an dieser Stelle auch gesagt werden, die "Armutsgefährdung" im Süden der Republik bei Weitem nicht so niedrig ist, wie der bundesweite Armutsbericht und auch diese Bertelsmann-Studie es verzeichnen.
Auch die Preise sind nämlich nicht überall gleich. Vor vielen Jahren gab es eine Studie mit einem Vergleich der Lebenshaltungskosten innerhalb Bayerns. Dabei ergab sich, dass selbst ohne Berücksichtigung der Mieten das Leben in Landshut um ganze 15 Prozent günstiger war als in München. Und eine ortsspezifische Armutsgrenze für München, streng nach dem europäischen Kriterium von 60 Prozent des gewichteten Medianeinkommens, ergab plötzlich eine Armutsquote von mehr als 20 Prozent.
Aber das ist egal. Jedes Jahr von Neuem. Das wäre anders, würden die Zahlen zu Armut, Wohnungslosigkeit, zu jedem Aspekt des sozialen Elends einmal im Monat auf der Vorderseite des Lokalteils veröffentlicht, als Gradmesser der politischen Leistung. Jedes fünfte Kind lebt in Armut, deutschlandweit, noch immer. Jedes Jahr, wenn die entsprechenden Berichte erscheinen, wird kurz einmal getönt, ja, da müsse man tätig werden. Und im nächsten Jahr kommen dieselben Zahlen wieder.
Überhaupt, der ganze Bericht erzählt eine Geschichte von gestern. Die zugrundeliegenden Zahlen sind von 2021. Zwischen diesen Zahlen und heute liegt ein Jahr mit hoher Inflation, die gerade für die Armen eben mehr als die offiziellen zehn Prozent betragen hat, weil Nahrungsmittel und Energie einen besonders großen Anteil der Ausgaben ausmachen. Allein diese Entwicklung dürfte den Anteil armer Kinder auf mindestens ein Viertel erhöht haben, was dann für Orte wie Gelsenkirchen hieße, dass die Hälfte der Kinder arm ist.
Ein Viertel der Kinder, die von Hartz IV leben müssen, hat keinen Computer. Die Studie erwähnt das, ohne ins Gedächtnis zu rufen, dass gerade erst im letzten Jahr dieser fehlende Computer hieß, den in die Distanz verlegten Schulunterricht komplett zu verpassen. Noch so ein Signal, wie gleichgültig die Gesellschaft der Armut gegenüber ist – schon die erste Überlegung, Unterricht über das Internet abzuhalten, hätte damit verbunden sein müssen, wie man Rechner und Anschlüsse für die Kinder sicherstellt, die keinen haben. Aber ein Computer pro Kind ist nach wie vor nicht Teil des Bedarfs.
67,6 Prozent der Familien, die von Grundsicherung leben, fahren nicht einmal für eine Woche in den Urlaub, stellt die Studie fest. Tatsächlich bräuchten die meisten mehr als eine Woche; drei Wochen seien die Voraussetzung zur Erholung, wird allgemein gesagt. Interessanterweise ist im Kinder- und Jugendhilfegesetz sogar Familienurlaub vorgesehen, aber an keinem Ort wurde dieser Anspruch bisher umgesetzt. Es wäre möglich.
Überhaupt wäre vieles möglich, so man denn wollte. Garantiert hätten die Kinder und die Alleinerziehenden eine Lobby wie das Kiewer Regime, mit Fürsprechern in jeder Redaktion und einem Haufen Internettrolle, in drei Wochen wäre das Ding gewuppt. Ein, zwei Kitschreden der Sorte Annalena "da hungern Kinder" dazu, noch eine Handvoll Talkrunden, in denen sämtliche Gäste in unterschiedlichen Tonlagen beteuern, welch wichtige Herausforderung es doch für das Land wäre, dass alle Kinder gut heranwachsen, welch bedeutende europäische Werte doch Menschenwürde, Bildung und Kultur seien, die man unbedingt gegen die materielle Not verteidigen müsse – fertig.
Ja, wenn man Armut mit Panzern bekämpfen könnte. Leider ist das Wort "Kinderarmut" aber noch in einem ganz anderen Sinne passend für Deutschland. Das Land ist arm an Kindern. Was unmittelbar mit der Armut von Kindern verknüpft ist, auch wenn immer so getan wird, als wäre das eher ein Produkt einer modernen Gesellschaft. Die Geburtenrate der DDR war wesentlich höher, und sie sank sofort ins Bodenlose, als die soziale Sicherheit schwand. Migranten übrigens haben genau in der ersten Generation mehr Kinder als Deutsche. Sobald klar ist, dass die ausgedehnten Familiennetzwerke als soziale Unterstützung ausfallen, die staatliche aber eher darauf ausgerichtet ist, von der Kinderaufzucht abzuhalten, fällt auch da die Geburtenrate.
Der ganze Umgang mit Armut in Deutschland richtet sich nicht am Interesse der Bevölkerung aus, zu der eben auch der arme Teil gehört, sondern an dem der Kapitaleigner; bei Hartz IV ging es schlicht darum, die Löhne zu drücken, was ja auch gelang, und die diversen Migrationswellen dienen dem selben Zweck, mit dem zynischen Hintergedanken, dass es billiger ist, das Menschenmaterial fertig zu importieren. Zuletzt gab es eine Reihe von Punkten, an denen das Probleme machte, weil sich die Strecke vom Analphabeten zum Metallfacharbeiter eben doch über ein Jahrzehnt hinzieht; aber wenn die deutsche Industriegesellschaft einmal geschreddert ist – um einen Holzpflug zu ziehen, muss man nicht lesen können.
Man kann den diesjährigen Durchlauf des Themas "Kinderarmut" durchaus als Abschiedsvorstellung betrachten. Die aktuelle Bundesregierung tut ihr Bestes, das Thema Armut gleichzeitig aus seinem Nischendasein zu befreien, indem die Gruppe der Armen zielgerichtet ausgeweitet wird, und es gleichzeitig im schwarzen Loch der Berichterstattung zu versenken. Denn wer wird noch über Kinder berichten, denen die Geburtstage von Freunden entgehen, weil sie keine Geschenke kaufen können, wenn die Ampel es endlich geschafft hat, Europa in Brand zu setzen? Beim jetzigen Tempo jedenfalls findet die Weihnachtsrunde Sozialthemen bereits nicht mehr statt.
Und wenn man den Grad der Unmenschlichkeit betrachtet, des Antihumanismus, der sich in dem Kriegsgeschrei, dem erbarmungslosen Verheizen der Ukrainer, dem blanken Rassismus gen Russland und der Zerstörung des deutschen Wohlstands gleichermaßen ausdrückt, muss man feststellen, dass die Kaltschnäuzigkeit, mit der bald 20 Jahre lang derartige Berichte über arme Kinder zu den Akten gelegt und vergessen wurden, Vorahnung wie Vorbereitung waren.
Denn Menschlichkeit ist instinktiv; Kinder kennen Mitgefühl und haben einen Sinn für Gerechtigkeit, ohne sie gelehrt zu bekommen. Es ist die Unmenschlichkeit, die eingeübt werden muss. Die Gleichgültigkeit gegenüber der Armut und die Bereitschaft, zur Erhaltung eines globalen Raubregimes in den Krieg zu ziehen, sind Schritte auf ein und demselben Weg in den Abgrund. Die Karriere der Ursula von der Leyen von der Erfinderin des Bildungs- und Teilhabepakets zu Flintenuschi zur obersten europäischen Kriegstreiberin besitzt eine tiefe innere Logik.
Quelle: rtde.v.29.01.2023/Symbolbild; Bamberg, 18.01.2023
Aus: Ausgabe vom 27.01.2023, Seite 1 / Inland
VERELENDUNG
Kinder- und Jugendarmut auf Rekordhoch
Neue Studie: 20,8 Prozent der Heranwachsenden in Armut, bei jungen Erwachsenen sogar 25,5 Prozent
Von Alexander Reich
In der reichen BRD leben 2,88 Millionen Kinder und Jugendliche in Armut. Mehr als jeder fünfte Heranwachsende ist betroffen. Bei den jungen Erwachsenen (18 bis unter 25 Jahre) sind es 1,55 Millionen. Hier liegt der Anteil mit 25,5 Prozent von allen Altersgruppen am höchsten, heißt es in einer Studie, die die Bertelsmann-Stiftung am Donnerstag vorstellte.
Die Armutsschwelle liegt bei 60 Prozent des mittleren Haushaltseinkommens. Bei Paarfamilien mit zwei Kindern sind das 2.410 Euro im Monat, Transferleistungen eingeschlossen, bei Alleinerziehenden mit einem Kind 1.492 Euro. In der Studie ist euphemistisch von »Armutsgefährdung« die Rede.
Junge Erwachsene in Ostdeutschland sind deutlich häufiger betroffen als Gleichaltrige im Westen (32,5 Prozent bzw. 24,2 Prozent). Im Osten liegt der Anteil junger Frauen dabei 6,2 Prozent über dem der jungen Männer, im Westen sind es nur 2,9 Prozent. Aber auch im Westen sind die regionalen Unterschiede riesig. In der bayerischen Kreisstadt Roth liegt die Kinderarmutsquote bei 2,7 Prozent, in Gelsenkirchen bei 41,7 Prozent.
Besonders hoch liegen die Anteile mit 41,6 Prozent bei Alleinerziehenden, am schlimmsten ist es in Mecklenburg-Vorpommern (50 Prozent) und Bremen (54 Prozent). Die Zahl der Kinder von Alleinerziehenden, die Transferleistungen beziehen, ist im Juni 2022 im Vergleich zum Vorjahr um 11,5 Prozent gestiegen. Auch bei der Zahl aller Heranwachsenden in Bedarfsgemeinschaften gab es den ersten deutlichen Anstieg seit fünf Jahren, heißt es in der Studie. Zurückgeführt wird das auf ukrainische Kriegsflüchtlinge. Im übrigen erhält jeder fünfte dieser Jugendlichen aus finanziellen Gründen kein Taschengeld. In der Vergleichsgruppe sind es nur 1,1 Prozent.
Auch die Abhängigkeit des Lernerfolgs »vom sozioökonomischen Status« hat sich laut Studie »nochmal erhöht«: »Die soziale Schere geht weiter auseinander.« In einer Reaktion forderte der Sozialverband VdK am Donnerstag einen »Neustart im Kampf gegen Kinderarmut«. Der Paritätische erklärte die Studienergebnisse zum »Resultat jahrzehntelanger politischer Unterlassungen«.
Quelle: junge welt vom 27.01.2023/ picture alliance / dpa-Zentralbild
»Nach Golde drängt, am Golde hängt doch alles.«
Milagro Sala feiert sieben Jahre Haft und fordert ihre Freilassung
Menschenrechtsorganisationen haben den Präsidenten aufgefordert, Sala zu begnadigen, was der Präsident wegen angeblicher Inkompetenz in dem Fall bestritten hat.
Die Referentin der Organisation der indigenen Völker von Argetina Tupac Amaru, die Führerin Milagro Sala, ratifizierte diesen Montag anlässlich eines neuen Jahrestages ihrer Verhaftung, dass es sich um eine willkürliche Inhaftierung handelt und Teil dessen, was sie ein "Labor der Lawfare" nannte.
Sala steht weiterhin unter Hausarrest, erhält Zeichen der Unterstützung und Solidarität von Organisationen und Persönlichkeiten, die die sogenannte Verfolgungsaktion der Provinzregierung von Jujuy unter der Leitung von Gerardo Morales anprangern.
Die indigene Führerin beschwert sich über das, was sie die Untätigkeit von Präsident Alberto Fernández nennt, und ging so weit zu sagen, dass "es wie Judas aussieht", in Bezug auf das letzte Treffen, das sie Mitte letzten Jahres hatten, als der Präsident sie anlässlich eines Krankenhausaufenthalts wegen gesundheitlicher Probleme besuchte.
Im Gespräch mit einem lokalen Radiosender sagt Sala, dass er das Gefühl hat, dass es ihm "schlecht geht. Ich fühle mich allein, dass sie mich vergessen haben. Früher haben alle Fotos mit politischen Gefangenen gemacht, heute ist es, als würden sie uns ausweichen. Irgendwann fühlte es sich so an, als ob sie vielleicht nicht glauben, dass du für das, was dir vorgeworfen wird, zur Rechenschaft gezogen werden willst. Sie geben dir Schuldgefühle."
Menschenrechtsorganisationen haben gefordert, dass Präsident Fernández Sala begnadigt, was der Präsident mit dem Argument abgelehnt hat, dass es sich um eine gerichtliche Resolution der Provinz handelt, die er nicht rückgängig machen kann.
Ende vergangener Woche berichtete sein Hausarzt Jorge Rachid, Sala zeige ein Bild von "einer tiefen Thrombose in der linken unteren Extremität, die bereits zuvor operiert worden war".
Nach Angaben des Arztes wird sie im öffentlichen Krankenhaus von Jujuy jedes Mal misshandelt und gewalttätig, wenn sie behandelt wurde, so dass sie gebeten wurde, in ein Zentrum in Buenos Aires verlegt zu werden, aber laut Rachid bestreitet die Provinzregierung von Gerardo Morales die Möglichkeit.
Sala befand sich zu Beginn seiner Haft im Frauengefängnis von Alto Comedero, aber seit 2017 verbüßt er seine Strafe mit Hausarrest, nachdem der Interamerikanische Gerichtshof für Menschenrechte ein Urteil in dieser Hinsicht erlassen hatte und das vom Obersten Gerichtshof angeordnet wurde.
Quelle: teleSUR v.16.01.2023
Aus: Ausgabe vom 13.01.2023, Seite 1 / Titel
ARMUT IN DER BRD
Hätte, hätte, Panzerkette
Größtes Defizit seit 20 Jahren: 700.000 Wohnungen fehlen. Bündnis fordert »Sondervermögen« für sozialen Wohnungsbau
Von Susanne Knütter
Für Aufrüstung gibt es ein milliardenschweres »Sondervermögen«, nicht jedoch für den sozialen Wohnungsbau. Das zu ändern forderte das Bündnis »Soziales Wohnen« auf seiner Jahrespressekonferenz am Donnerstag in Berlin. Die Summe, die das Bündnis, an dem sich neben dem Mieterbund und der Gewerkschaft IG BAU auch Sozialverbände und Branchenvertretungen der Bauwirtschaft beteiligen, verlangt, ist allerdings deutlich geringer. 50 Milliarden Euro solle der Staat für den Neubau von 380.000 Sozialwohnungen bis zum Ende der Legislaturperiode bereitstellen. Damit könnte die Bundesregierung dem selbstgesteckten und bisher weit verfehlten Ziel von 100.000 Sozialwohnungen pro Jahr gerecht werden.
Wie groß der Bedarf an Wohnungen insgesamt ist, legte das Verbändebündnis anhand zweier Studien dar. Im Jahr 2022 baute sich mit über 700.000 fehlenden Wohnungen das größte Defizit seit mehr als zwanzig Jahren auf. Kamen im Jahr 1987 in Westdeutschland auf 100 Mieterhaushalte 25 Sozialwohnungen, ist die Zahl aktuell auf fünf zurückgegangen, wie Matthias Günther, Leiter des Pestel-Instituts in Hannover, erläuterte. Dabei hätten derzeit offiziell elf Millionen Mieterhaushalte einen Anspruch auf einen Wohnberechtigungsschein und somit auf eine Sozialwohnung. Aber nur für jeden Zehnten davon gibt es aktuell eine. Und der Bedarf werde noch einmal deutlich ansteigen. Infolge des Kriegs in der Ukraine habe 2022 die Zahl der Geflüchteten hierzulande einen Rekord erreicht. 2022 lebten rund 1,5 Millionen Menschen zusätzlich in Deutschland. »Wer in die BRD flüchtet und längere Zeit bleibt, ist auf den sozialen Wohnungsmarkt angewiesen«, so Günther.
Damit wird deutlich: Es fehlt in erster Linie an bezahlbarem Wohnraum. Aber wie die Wohnungswirtschaft diese Situation ausnutzt, um immer höhere Profite aus ihren Mietern herauszupressen, war nicht das Thema dieser Pressekonferenz. Die Lösung sehen die am Bündnis beteiligten Organisationen einmal mehr in dem Instrument »Bauen, Bauen, Bauen«. Und dafür brauche es einen »Juckreiz«, damit Verbände und Unternehmen in den sozialen Wohnungsbau einsteigen, wie der Vizevorsitzende der IG BAU, Harald Schaum, die »nötigen« finanziellen »Anreize« bezeichnete. Dazu gehöre etwa auch ein Steuerpaket für den sozialen Wohnungsbau. Allein durch die Reduzierung der Mehrwertsteuer von 19 auf sieben Prozent wäre eine durchschnittliche Sozialwohnung von 60 Quadratmetern Wohnfläche um mehr als 20.000 Euro günstiger zu bauen. Damit einhergehen könnte – nebenbei bemerkt – eine längerfristige Sozialbindung für die so errichteten Wohnungen. Ein weiterer Anreiz wären schnellere und unbürokratischere Genehmigungsverfahren.
Ein Aspekt, der den Forderungen des Bündnisses in den Augen der Bundesregierung Nachdruck verleihen könnte, ist der Mangel an Arbeitskräften. Künftig sei der deutsche Arbeitsmarkt auf 300.000 bis 500.000 Menschen angewiesen, die pro Jahr zuwanderten. Ohne sie würde etwa der Sozial- und Gesundheitsbereich zusammenbrechen, erklärte Janina Bessenich, Geschäftsführerin des Caritas-Fachverbandes Behindertenhilfe und Psychiatrie. Aber schlechte Bezahlung und teure Wohnungen sind eher keine Anreize, um nach Deutschland zu kommen. Es sei denn, die Not andernorts ist noch größer. Vielleicht gehört das zum Kalkül der Bundesregierung bei ihrem außenpolitischen Kurs.
Quelle: junge Welt v.13.01.2023/ picture alliance / Daniel Kubirski
Nach der Wahl wurden die Prioritäten etwas deutlicher: Das angekündigte Budget für Sozialwohnungen wanderte in die Aufrüstung
Jeder dritte Vollzeitbeschäftigte wird Rente unter 1.200 Euro erhalten
Die gesetzliche Altersvorsorge könne den Lebensstandard vieler Rentner nicht mehr sichern, kritisiert Dietmar Bartsch. Der Chef der Linksfraktion fordert eine Reform.
Aktualisiert am 12. Januar 2023, 11:48 Uhr
Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linksfraktion im Bundestag © Michael Kappeler/dpa
Mehr als ein Drittel der Vollzeitbeschäftigten in Deutschland wird nach Zahlen der Bundesregierung im Alter eine gesetzliche Nettorente von unter 1.200 Euro erhalten. Das berichtet die Augsburger Allgemeine unter Berufung auf eine Anfrage der Linken. Der Vorsitzende der Linksfraktion, Dietmar Bartsch, nannte die Zahlen alarmierend. "Wir brauchen eine große Rentenreform in Deutschland", sagte er der Zeitung.
Laut Bundesregierung würden 36 Prozent der künftigen Rentnerinnen und Rentner selbst nach 45 Arbeitsjahren maximal 1.200 Euro netto aus der gesetzlichen Altersvorsorge erhalten. Dies trifft dem Bericht zufolge auch auf das wohlhabendere Süddeutschland zu: In Bayern landen 33 Prozent und in Baden-Württemberg 29 Prozent der künftigen Bezieher trotz Vollzeitarbeit unter der genannten Grenze.
Nach den Zahlen aus Daten der Bundesagentur für Arbeit ist das Problem niedriger Rentenansprüche in Ostdeutschland am größten. In Sachsen wird demnach über die Hälfte der künftigen Rentnerinnen und Rentner mit maximal 1.200 Euro aus der gesetzlichen Versicherung nach Hause gehen, in Thüringen gar 57 Prozent.
Bartsch fordert Reform nach Vorbild Österreichs
"Wir brauchen eine Rentenkasse wie in Österreich, wo die durchschnittliche Rente 800 Euro höher ist als bei uns", forderte Bartsch. "Das ist möglich, weil dort nicht nur Arbeitnehmer und Arbeitgeber einzahlen, sondern alle Bürger mit Erwerbseinkommen – auch Abgeordnete, Beamte, Selbstständige und Manager. Was Österreich kann, muss auch Deutschland können."
Bartsch verwies darauf, dass das Problem sämtliche Bundesländer betreffe: "Derzeit müsste ein Vollzeitbeschäftigter 3.034 Euro brutto im Monat 45 Jahre durchgehend verdienen, um rechnerisch auf 1.200 Euro Nettorente zu kommen", sagte der Fraktionschef der Linken. "Das Verhältnis stimmt nicht." Lohn- und Rentenniveau seien vielfach zu gering.
Die gesetzliche Rente sichere häufig nicht mehr den Lebensstandard, sagte Bartsch weiter. "Gerade angesichts der galoppierenden Inflation sind deutliche Lohnsteigerungen und eine schrittweise Anhebung des Rentenniveaus auf 53 Prozent geboten."
QuellE. Zeit-online 12. Jan.2023 / Bild GeFiS-Archiv
Aus: Ausgabe vom 09.01.2023, Seite 1 / Inland
MOBILISIERUNG GEGEN POLIZEIGEWALT
Gedenken an Oury Jalloh und weitere Opfer rassistischer Polizeigewalt
Dessau. Das war Mord. Mit dieser Aussage zogen rund 1.600 Demonstranten am Sonnabend durch Dessau. Gefordert wurde Gerechtigkeit für den dort am 7. Januar 2005 in einer Arrestzelle der Polizei verbrannten Oury Jalloh. Denn seit 18 Jahren wird die Aufklärung der Todesumstände von staatlicher Seite durch Lügen und Vertuschung verhindert. Die Demonstranten warfen Hunderte Feuerzeuge in den Briefkasten der Staatsanwaltschaft. Mit einem Feuerzeug habe der an Händen und Füßen gefesselte Jalloh sich und die Matratze in seiner Zelle selbst angezündet, so lautete die durch forensische Gutachten und Brandversuche widerlegte Behauptung von Polizei und Staatsanwaltschaft. Dank der von der Initiative Oury Jalloh – Break the Silence in Auftrag gegebenen Untersuchungen steht fest, dass der Guineer schwer körperlich misshandelt wurde, ehe er verbrannte. Bislang wurde nur ein Polizist wegen unterlassener Hilfeleistung und fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilt. Nach Ausschöpfung aller Rechtsmittel in Sachsen-Anhalt liegt der Fall seit drei Jahren dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe vor.
Auf der Dessauer Demonstration wurde auch an andere Opfer von rassistischer Polizeigewalt und Neonaziangriffen erinnert – so an den im vergangenen Jahr in Dortmund von Polizisten erschossenen 16jährigen Mouhamed Lamine Dramé. (jW)
Quelle: junge Welt v.09.01.2023
UN verurteilt US-Vorgehen wegen Verletzung von Flüchtlingsrechten
Die jüngsten Grenzmaßnahmen, die von der Biden-Regierung gefördert wurden, "entsprechen nicht den Normen des Flüchtlingsrechts", so UNHCR.
Der Sprecher des UN-Hochkommissars für Flüchtlinge, Boris Cheshirkov, sagte am Freitag, dass neue US-Einwanderungsmaßnahmen die Rechte der Flüchtlinge verletzen, indem sie internationale Standards nicht erfüllen.
Auf einer Pressekonferenz in Genf sagte der Sprecher, dass UNHCR zwar die Öffnung neuer und sicherer Wege für einige Länder in die USA begrüße, diese Regeln "dürfen diejenigen, die zur Flucht gezwungen sind, nicht daran hindern, ihr grundlegendes Menschenrecht auf Sicherheit auszuüben".
Nach Ansicht der UN-Agentur entsprechen die jüngsten Grenzmaßnahmen, die von der Biden-Regierung gefördert werden, "nicht den Normen des Flüchtlingsrechts", da sie Migranten die Möglichkeit verweigern würden, Asyl in den Vereinigten Staaten zu beantragen, wenn sie ohne Erlaubnis aus Mexiko kommen.
Laut offiziellen Quellen analysiert UNHCR die neuen Maßnahmen und die Folgen ihrer Anwendung, die die Einreise "einer beispiellosen Anzahl von Menschen" aus den vier lateinamerikanischen Nationen in die Vereinigten Staaten ermöglichen werden.
Ebenso hat die Agentur auf ihrer Besorgnis über die Kontinuität von Titel 42 bestanden, der umstrittenen Regel, die die sofortige Ausweisung von Migranten aus gesundheitlichen Gründen erlaubt, nachdem ihre Verlängerung vom Obersten Gerichtshof des nördlichen Landes gebilligt wurde.
"Was wir wiederholen, ist, dass dies weder im Einklang mit den Normen des Flüchtlingsrechts steht, noch um eine Verbindung zwischen den angekündigten sicheren und legalen Wegen herzustellen", schloss Cheshirkov.
Quelle: teleSUR v.07.01.2023 (Bild, © UNHCR/Nicolo Filippo Rosso Asylsuchende kommen an der Südgrenze der Vereinigten Staaten an; Laut UNHCR würde die neue US-Maßnahme Migranten die Möglichkeit verweigern, Asyl zu beantragen, wenn sie ohne Erlaubnis aus Mexiko in die Vereinigten Staaten einreisen. | Foto: EFE.)
„Wir sehen schwere Menschenrechtsverletzungen“
(Lima, 19. Dezember 2022, Exitosa Noticias).- Mar Pérez, Anwältin der peruanischen Nationalen Menschenrechtskoordination (CNDDHH) erklärte gegenüber dem Nachrichtenportal Exitosa Noticias, dass die hohe Zahl an Toten und Verletzten bei den jüngsten landesweiten Protesten auf „schwere Menschenrechtsverletzungen“ zurückzuführen seien. Die Anwältin kritisierte, dass die Regierung die Streitkräfte eingesetzt hat, um bei der Wiederherstellung der Ordnung mitzuwirken. Sie wies darauf hin, dass die Armee nicht dafür ausgebildet sei, Menschenansammlungen zu zerstreuen, sondern dass „sie darauf trainiert ist, militärische Ziele zu eliminieren“.
„Wir haben es mit schwerwiegenden Menschenrechtsverletzungen zu tun, die nicht als individuelle Exzesse bezeichnet werden können. Indem die Regierung die Beteiligung der Streitkräfte an der Kontrolle der inneren Ordnung genehmigt hat, trägt sie die Verantwortung“, erklärte sie.
„Man darf nicht schießen, um einen Flughafen zu verteidigen“
Mar Pérez erinnerte daran, dass die Ordnungskräfte nach den internationalen Menschenrechtsnormen nur dann schießen dürfen, wenn es um die Rettung von Menschenleben geht. „Man darf nicht schießen, um eine Straße freizumachen, um eine Menschenmenge zu zerstreuen, nicht einmal, um Infrastruktur, etwa einen Flughafen, zu verteidigen“, sagte sie. Die Anwältin der CNDDHH vertrat die Auffassung, dass die Polizei die Kontrolle hätte übernehmen müssen, um den Flughafen von Ayacucho zu schützen. Bei schweren Auseinandersetzungen auf dem Flughafengelände gab es mindestens sieben Tote. „Es gibt Geschosse, mit denen man Menschenmengen zerstreuen kann, ohne Menschen zu töten“, so Pérez. Zwar dürften Sicherheitskräfte Gewalt gegen Personen anwenden, die Vandalismus begehen. Dies bedeute jedoch nicht, dass wahllos auf eine ganze Menschenmenge geschossen werden dürfe. „Wenn Polizei und die Armee mitten in einer Stadt Kriegswaffen einsetzen, ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass es zu unschuldigen Opfern kommt. Das ist in einem Rechtsstaat nicht hinnehmbar“, sagte sie.
Quelle: Nachrichtenpool Lateinamerika Dez.2022/ Bei schweren Auseinandersetzungen in verschiedenen Regionen Perus gab es mehrere Tote und Schwerverletzte. Foto: alai.info
Aus: Ausgabe vom 24.12.2022, Seite 8 / Inland
OBDACHLOSIGKEIT IN DER BRD
»Dafür, dass der Winter erst angefangen hat, sind das viele«
Mindestens sechs Wohnungslose sind in der BRD zuletzt infolge niedriger Temperaturen gestorben. Ein Gespräch mit Werena Rosenke
Interview: Kristian Stemmler
Werena Rosenke ist Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W)
Der Winter hat sehr kalt angefangen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe meldet bereits die ersten Kältetoten unter obdachlosen Menschen. Wie viele sind es hierzulande, und wie werden die Fälle erfasst?
Es sind bisher sechs Fälle – dafür, dass der Winter erst angefangen hat, sind das sehr viele. Seit etwa 30 Jahren führen wir ein entsprechendes Monitoring der Presseberichterstattung durch und durchforsten auch die Lokalteile von Zeitungen bundesweit. Bei der Zahl, die wir nennen, handelt es sich um eine Mindestzahl von Toten. Wir erfassen nur die Fälle, die in der Presse erscheinen.
Formal wird unterschieden, ob die obdachlosen Menschen wegen oder mit der Kälte gestorben sind. Wie bewerten Sie das?
Die Unterscheidung ist eher akademisch. Ob jemand an oder mit Unterkühlung stirbt, ist erst einmal egal. Oft haben Menschen auf der Straße Vorerkrankungen, die sie für Kältegrade weniger resilient machen. Im übrigen kann man auch bei Plustemperaturen einen Kältetod sterben, wenn etwa keine vernünftige Kleidung vorhanden ist. Es ist auch schon jemand im September an Unterkühlung gestorben.
Die Gefahr durch das Coronavirus ist auch unter Wohnungslosen nicht mehr das dominierende Thema. Dafür kursieren jetzt Atemwegserkrankungen.
Wie im Rest der Bevölkerung auch haben viele von ihnen die Grippe oder andere Erkältungskrankheiten. Der Unterschied besteht aber darin, dass sich wohnungslose Menschen nicht in die eigenen vier Wände zurückziehen können, um das ein paar Tage lang auszukurieren.
Die Kommunen und Wohlfahrtsverbände halten im Winter besondere Angebote bereit. Welche sind das?
Es werden beispielsweise Kältebusse eingesetzt oder Aufenthaltsstätten für wohnungslose Menschen angeboten. Zudem achten Streetworker besonders auf Menschen, die sich ganztags im Freien aufhalten.
Haben sich die Angebote in den vergangenen Jahren verbessert?
Das hängt davon ab, welchen Zeitraum Sie in den Blick nehmen. Wenn man sich die letzten 20 Jahre ansieht, muss man sagen: Das Angebot hat sich verbessert. So gab es damals etwa keine Kältebusse. Wenn man sich aber die letzten vier, fünf Jahre ansieht, hat es keine wesentlichen Verbesserungen gegeben. In den beiden Coronawintern hatte man vorübergehend 24/7-Einrichtungen aufgemacht – also solche, die rund um die Uhr geöffnet sind. Davon ist vieles wieder zurückgefahren worden.
Sie fordern, dass die Angebote, die in der Coronazeit aufgemacht wurden, weiter Bestand haben sollen.
So ist es. Notübernachtungsstellen und Tagesaufenthalten mit ausreichend Platz für wohnungslose Menschen müssen Tag und Nacht geöffnet sein. Bei Bedarf müssen leerstehende Hotels angemietet oder leerstehende öffentliche Gebäude für die Unterbringung genutzt werden. Zudem fordern wir die Aussetzung von Zwangsräumungen im Winter. Es ist unbedingt notwendig, zusätzliche Räumlichkeiten zu akquirieren – schon deshalb, weil durch die Unterbringung von Geflüchteten, vor allem aus der Ukraine, die Kapazitäten am Limit sind.
Man hört immer wieder, dass obdachlose Menschen Unterbringungsangebote nicht annehmen, weil sie fürchten, dort beklaut zu werden, oder sie in Mehrbettzimmern schlafen müssen. Können Sie das bestätigen?
Ja. Es gibt zum Beispiel Unterkünfte, die vom hygienischen Standard nicht zumutbar sind. Manche Einrichtungen sind zudem nicht gut erreichbar, weil sie irgendwo am Stadtrand sind. Darum fordern wir, lieber kleinere Einheiten zu schaffen, die dafür zentral liegen. Ich finde es befremdlich, wenn gesagt wird: Wir haben ja noch Kapazitäten. Das mag sein, aber man kann bei der Unterbringung nicht nur auf die Quantität schauen, sondern muss sich auch den Zustand der Unterkünfte anschauen.
Was kann man tun, wenn man in kalten Nächten obdachlose Menschen hilflos auf der Straße findet?
Wenn man den Eindruck hat, die Situation könnte für den Betroffenen gefährlich werden, sollte man die speziellen Kältenotrufe anrufen, soweit es die vor Ort gibt. Ansonsten muss man die Notrufnummer 112 wählen.
Quelle: junge Welt v.24.12.2022/ Frank Molter/dpa
Ein Mann sitzt in einen Schlafsack gehüllt in der Kieler Innenstadt
UNO verabschiedet Resolution zu den Rechten indigener Völker
Zum ersten Mal wird das Selbstbestimmungsrecht indigener Völker in ihren Lebensweisen und Traditionen offiziell anerkannt.
Die Generalversammlung der Vereinten Nationen (UN) hat am Montag im Konsens eine von Bolivien vorgelegte Resolution verabschiedet, die das Engagement der Staaten zum Schutz der individuellen und kollektiven Rechte indigener Völker erneuert, berichtete das Außenministerium des Landes am Montag.
Nach Angaben des bolivianischen Außenministeriums war das Dokument mit dem Titel "Rechte indigener Völker" das Ergebnis einer Zusammenarbeit mit Ecuador und wurde von 47 Ländern gesponsert.
Die UNO nahm die Stellungnahme im Konsens an, hebt das Außenministerium hervor, wo zum ersten Mal auf das Selbstbestimmungsrecht hingewiesen wird, das indigene Völker in freiwilliger Isolation oder Erstkontakt haben, und in diesem Rahmen "haben diese Völker das Recht,